1584 - Seelenlos
Radfahrer rollten hinter Jane vorbei. Die Masse der Besucher war bereits verschwunden.
Jane betrat den Kirchplatz an der linken Seite, wo ein gewaltiger Kastanienbaum sein Geäst in die Höhe reckte und ein Eisverkäufer dabei war, seinen fahrbaren Verkaufswagen abzuschließen.
Der Betrieb des Tages war längst abgeflaut. Zwar herrschte keine Ruhe, doch auf dem Weg zum Kreuzgang begegnete Jane kein Mensch. Es war dort auch zu dunkel geworden. Wer sich jetzt noch auf dem Gelände aufhielt, der stand am Gitter und ließ seine Blicke in die Tiefe gleiten, wo sich der Fluss durch die Stadt wand, über die sich allmählich die Dämmerung ausbreitete und die ersten Lichter ihren Schein abgaben.
Jane schritt über einen dunkelgrauen, sehr alten Steinboden hinweg. Sie versuchte, ihre Schritte so geräuschlos wie möglich zu halten, damit sie sich besser auf die Umgebung konzentrieren konnte.
Denn sie wollte hören, wenn jemand kam. Umgekehrt sollte es nicht so sein.
Schon weit vor der Kirche hatte sie sich von John Sinclair getrennt. Er würde seinen eigenen Weg gehen, und sie hoffte, dass er schlau genug war, sich nicht entdecken zu lassen.
Der Kreuzgang schluckte sie. Das Gefühl jedenfalls überkam sie. An der linken Seite war er so gut wie offen. Da sah sie die breiten leeren Räume zwischen den mächtigen Steinsäulen, die das Gewölbe des Ganges stützten.
Jenseits der Säulen befand sich ein Innenhof. Nicht sehr groß, doch angelegt wie ein Klostergarten, in dem der Rasen aussah wie gemalt, so perfekt war er geschnitten worden.
Jane sah auch das Ende des Kreuzgangs. Dort hing ein großes steinernes Relief an der Wand; Mit leisen Schritten ging sie darauf zu und musste feststellen, dass sie noch nicht das Ende des Ganges erreicht hatte. Sie konnte rechts um eine Ecke gehen, denn dort setzte sich der Gang fort.
Bevor sie das tat, drehte sie sich um und schaute den Weg zurück. Er war menschenleer. Es gab keinen Verfolger, der sich auf ihre Fersen gesetzt hätte.
Jane ging weiter. Es wurde dunkler.
Sie hatte das Gefühl, in einen grauen Tunnel einzutauchen.
Noch hatte sie nichts von Alex Nicolic gesehen, auch nichts gehört. Die Außengeräusche waren ebenfalls kaum zu hören.
Sie hatte erwartet, einen weiteren Anruf zu erhalten, aber das Handy blieb stumm. Nachdem sie die Hälfte des Gangs hinter sich gelassen hatte, hielt sie an. Sie überlegte, ob sie an dieser Stelle bleiben sollte. Sie war nicht so schlecht, denn da standen ihr zwei Fluchtwege offen.
Die Luft war eine andere geworden. Sie hatte sich abgekühlt, und Jane empfand sie als feuchter als draußen. Wenn sie einatmete, dann glaubte sie, den Geruch der alten Steine auf der Zunge zu schmecken. Es konnte aber auch an der Übersensibilität ihrer Sinne liegen, denn das Treffen mit dem Seelenlosen warf seine Schatten voraus.
Weitergehen? Warten? Was sollte sie tun? Es stand fest, dass Nicolic sie finden würde, und für einen Moment dachte sie sogar darüber nach, ob sie die große Kirche betreten sollte.
»Da bist du ja!«
Jane zuckte zusammen, als sie den Klang der Stimme in ihrem Rücken hörte. Plötzlich schlug ihr Herz schneller.
Sie drehte sich um.
Zunächst sah sie nichts. Nicolic schien sich versteckt zu haben. Leider war es dunkler geworden, aber dann entdeckte sie die Bewegung an einer bestimmter Stelle.
Er stand nicht im Gang, sondern wartete im Innenhof auf sie.
»Willst du nicht kommen, Jane? Ich beiße nicht.«
»Okay.«
Ihre Knie zitterten schon bei den ersten Schritten. Das hörte auch nicht auf, als sie Nicolic näher kam.
Sie schalt sich selbst eine Närrin. Sie war sauer darüber, dass ihr so etwas passierte, denn sie dachte daran, wie oft sie sich in lebensgefährlichen Situationen befunden hatte, in denen es so ausgesehen hatte, als gäbe es keinen Ausweg mehr.
Und jetzt stand sie hier vor dem Innenhof zwischen zwei Säulen und schaute Nicolic entgegen, der mit einer engen Hose und einer kurzen, leicht glänzenden Lederjacke bekleidet war.
Das nahm sie nur am Rande wahr. Viel wichtiger war sein Gesicht und dort die Augen, die sich von der Dunkelheit und der Umgebung des Gesichts abhoben.
Das strahlende Gelb war nicht vorhanden, der Serbe sah fast normal aus.
Er lachte Jane an und sagte: »Schön, dass wir uns hier treffen. Ich freue mich.«
»Warum?«
»Komm näher, dann sage ich es dir!«
Jane schüttelte den Kopf. »Nein, ich bleibe hier zwischen den Säulen.« Nicolic sollte wissen, dass er mit ihr nicht
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