1586 - Leichenräuber
»Dann können wir ja hingehen und nachschauen.«
»Wenn du das willst, ist es okay.«
»Gut.« Shao schaute sich um und fragte dabei: »Treibst du dich allein hier herum?«
»Siehst du noch jemanden? Du bist doch auch allein.«
»Schon gut. War nur eine Frage.«
Shini rieb ihre Hände. »Dann können wir jetzt gehen - oder?«
»Sicher.«
Shini lachte. »Ich freue mich auf Bloom.«
»Wieso?«
»Er ist immer ein Störenfried gewesen. Man hat ihn praktisch als Aufpasser hierher geschickt. Er ist mir einige Male in die Quere gekommen, aber das ist jetzt vorbei.« Sie kicherte und rieb erneut ihre Hände.
Shao hatte alles mitbekommen, und in ihr hatte sich der Gedanke festgesetzt, dass diese Shini alles andere als harmlos war und vielleicht sogar mit den Ghouls unter einer Decke steckte…
Der Weg zur Leichenhalle war nicht weit, aber Shao blieb Zeit genug, um sich ihren Gedanken hingeben zu können.
Sie musste sich selbst gegenüber zugeben, dass sich der Fall verselbstständigt hatte. Sie war einen völlig anderen Weg gegangen, als es mit Suko abgesprochen war. Sie spürte das Gewicht des aufgerollten Seils an ihrer linken Seite. Ob Shini es entdeckt hatte, wusste sie nicht. Jedenfalls hatte sie nichts darüber gesagt.
Eigentlich hätte ich weiter nach Suko suchen müssen, dachte sie, und dieser Gedanke ließ die ersten Vorwürfe in ihr hochsteigen, was sie schon beschäftigte.
Es war alles anders gekommen.
Plötzlich war diese Shini wichtiger geworden. Unter Umständen war es auch ein Fehler gewesen, dass sie den toten Peter Bloom erwähnt hatte. Andererseits wusste sie inzwischen, dass dieses Gruftie-Girl mehr wusste, als es zugeben wollte.
Der Gang zur Leichenhalle konnte auch leicht in einer Falle enden, doch darüber machte sich Shao jetzt keine Gedanken.
Etwas anderer beschäftigte sie viel stärker. Sie überlegte, ob Shini wirklich allein auf dem Friedhof unterwegs war oder ob sie nicht noch Verbündete hatte, die bisher im Hintergrund geblieben waren.
Die Grufties oder die Schwarzen traten in der Regel in Gruppen auf, und gerade auf einem Friedhof zu solch einer Zeit gehörte es dazu. Da hatten sie etwas vor, und das Gefühl der Gemeinschaft machte sie stark.
Shao blieb hinter Shini. Sie war gespannt darauf, was die junge Frau zu dem Toten sagen würde.
Auch Shao hatte ihn bisher noch nicht zu Gesicht bekommen und kannte ihn nur aus Sukos Beschreibungen. Danach würde sie sich umgehend darum kümmern, die Fallgrube zu finden, in der sich Suko befand, und sie konnte sich vorstellen, dass Shini ihr sogar den Weg zeigte, weil sie hier Bescheid wusste.
Die Konturen der kleinen Leichenhalle malten sich vor ihnen ab. Shini blieb stehen und wollte wissen, ob die Tür offen war.
»Ich denke schon.«
»Dann lass uns mal reingehen.« Sie schickte Shao nicht vor und machte selbst den Anfang.
Das empfand die Chinesin als günstig. So konnte sie ihre Blicke schweifen lassen, um herauszufinden, ob sich in ihrer unmittelbaren Umgebung noch jemand aufhielt und sie beobachtete.
Sie sah nichts.
Shini hatte vor der Tür angehalten. Sie drehte den Kopf und fragte: »Soll ich öffnen?«
»Bitte.«
»Okay.«
Shao wunderte sich über den Ton in Shinis Stimme. Er hatte so heiter geklungen, als würde es ihr Spaß bereiten, sich in dieser Umgebung zu bewegen. Letztendlich kam sie Shao vor wie jemand, der alles im Griff hatte und darauf aus war, es auch zu beweisen.
Die Tür wurde aufgezogen. Eine typisch feuchte Leichenhallenluft schlug den beiden Frauen entgegen.
Shao spürte ihre Nervosität. Ihre Handflächen waren leicht feucht geworden. Sie wischte sie an ihrer grauen Jeanshose ab und folgte Shini in die düstere Halle, in der die Schatten überwogen. Ihre Augen mussten sich erst an die Umgebung gewöhnen.
Als Shao nach vorn blickte, huschte ein Lächeln über ihre Lippen. Suko hatte ihr beschrieben, wo der Sarg stand. Genau dort sah sie auch seine Umrisse.
Shini ging nicht mehr weiter.
»Ich mache mal Licht«, sagte sie. Ein Beweis, dass sie sich hier auskannte.
Es gab keine gleißende Helligkeit, die plötzlich aufflammte. Es war mehr ein Totenlicht, das von beiden Wänden in den Raum fiel und auch den Sarg erreichte.
Suko hatte seiner Freundin erklärt, dass der Tote im Sarg gelegen und einen schrecklichen Anblick geboten hatte. Daran musste sie jetzt denken und verkrampfte sich innerlich.
Beide gingen auf den Sarg zu, der nicht verschlossen war. Den vollen Einblick würde Shao erst
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