1586 - Leichenräuber
erhalten, wenn sie dicht davor stand. Es waren nur noch ein paar Schritte, die sie zurücklegen musste. Dann blieb sie stehen, als wäre sie gegen eine Wand gelaufen.
Der Sarg war leer!
***
Es war kein Schwindelgefühl, das sie überfiel, doch die Knie wurden ihr schon weich und ihre Hände krampften sich zu harten Fäusten zusammen. Der leere Sarg verschwamm für einen Moment vor ihren Augen. Tief aus ihrer Kehle stieg ein Krächzen, über das sie sich ärgerte.
»Hast du was?«, fragte Shini.
Shao drehte dem links neben ihr stehenden Mädchen den Kopf zu. »Und ob ich etwas habe. Es fehlt die Leiche.«
»Ja, das sehe ich auch. Und du bist sicher, dass sie vorher hier gelegen hat?«
»Dann hätte ich es nicht gesagt.« Shao blieb bei ihrer Notlüge. Sie glaubte auch nicht daran, dass Suko ihr etwas Falsches gesagt hatte. In diesem Sarg hatte der tote Peter Bloom gelegen, und jetzt war er leer.
»Und was hast du für eine Erklärung?«
»Es gibt nur eine. Jemand war hier und hat die Leiche gestohlen.«
Shini gefiel die Antwort nicht. Ebenso wenig wie der Blick, den Shao ihr zuwarf.
»He, was soll das? Glaubst du etwa, dass ich den Toten aus dem Sarg geholt habe?«
»Ich könnte es mir vorstellen.«
»Scheiße! Und warum hätte ich das tun sollen?«
»Du hast dir ein besonderes Hobby ausgesucht. Als Gruftie geht man oft Wege, die anderen Menschen verborgen bleiben, wenn du mich verstehst!«
»Klar. Du hast laut genug gesprochen. Nur versichere ich dir, dass ich die Leiche nicht geklaut habe. Ich glaube eher, dass du dich nur wichtig machen wolltest.«
»Das werden wir sehen.«
»Da bin ich gespannt.«
Shao hatte ihre Überraschung überwunden. Sie kümmerte sich auch nicht um Shinis Gerede, denn sie hatte etwas Bestimmtes vor.
Okay, der Tote lag nicht mehr hier. Aber so wie er nach Sukos Beschreibung ausgesehen hatte, musste er innerhalb des Sargs Spuren hinterlassen haben.
Danach wollte Shao suchen. Sie ging dabei von Blutflecken aus, die möglicherweise noch an den Innenseiten der Sargwände klebten oder am Boden zu finden waren.
Shao holte jetzt ihre Lampe hervor und leuchtete das Innere der hellen Totenkiste aus.
Ja, da waren Spuren!
Dunkle Flecken. Nicht zu übersehen. Sogar winzige Kleidungsreste klebten am Holz fest, und das war der Beweis, dass Suko sich nicht geirrt hatte.
Shini schob sich an Shao heran.
»Siehst du was?«
»Und ob.«
»Wo denn?«
»Sieh doch selbst genau hin. Die Blutspuren sind nicht zu übersehen.«
Shini warf Shao einen letzten Blick zu, bevor sie sich nach vorn beugte, um in den Sarg zu schauen.
Nach einigen Sekunden fragte sie: »Und das soll wirklich Blut sein?«
»Ja, lass es dir sagen. Wenn du mir nicht glaubst, kannst du es ja kosten.«
»Leck mich.« Shini richtete sich wieder auf. »Jedenfalls haben wir keine Leiche. Da hast du Pech gehabt.«
»Dass kein Toter mehr in diesem Sarg liegt, heißt nicht, dass es ihn nicht gegeben hat. Es kann durchaus sein, dass man diesen Peter Bloom weggeholt hat und er jetzt woanders liegt.«
Shini sagte zunächst mal nichts. Dann tippte sie gegen ihre Stirn.
»Aha, du hast mich in Verdacht. Ich war also hier und habe den Toten weg geholt. Krass, echt krass.« Sie fing an zu lachen, das sich mehr wie ein Kreischen anhörte.
Shao wartete ab, bis sie sich wieder beruhigt hatte.
»Ich habe damit nicht gemeint, dass du dich allein um die Leiche gekümmert hast. Es kann noch jemand bei dir gewesen sein.«
»Haha. Wen siehst du denn?«
»Das kann noch kommen.«
Shini winkte wütend ab. »Erzähl mir doch keine Scheiße. Du weißt genau, dass du hier nicht weiterkommst. Jetzt suchst du die Schuld bei mir. Aber ich könnte dich ja auch fragen, was du eigentlich zu dieser Zeit auf dem Friedhof und ebenfalls in der Leichenhalle gesucht hast. Ja, das würde ich gern wissen.«
»Ich bin auf der Suche nach jemandem.«
»Aha. Und dafür brauchst du ein Seil?«
»Man muss mit allem rechnen.«
Shinis Gesicht nahm einen verschlagenen Ausdruck an.
»Und wen suchst du hier auf dem Friedhof? Doch bestimmt keinen Toten - oder?«
»Nein, das nicht. Ich suche einen Mann, der noch lebt, und ich werde ihn auch finden.«
»Ach ja. Das heißt also, dass du deine Suche nach diesem Typ nicht aufgeben willst.«
»Du sagst es.«
Shini hatte die Antworten bisher recht schnell gegeben. Jetzt aber zögerte sie und musste zunächst nachdenken. Sie holte tief Luft und flüsterte dann: »Hör mal zu, Shao. Ich habe dich bisher
Weitere Kostenlose Bücher