1586 - Leichenräuber
weiter und machte sich auf den Weg. Sie rannte nicht, ging auch nicht besonders schnell, bewegte sich aber zügig voran und war darauf bedacht, so wenig Geräusche wie möglich zu verursachen.
Shao blieb ihr auf den Fersen. Natürlich hatte sie die Beretta nicht weggesteckt. Der Friede auf diesem Areal war trügerisch. Jeden Augenblick konnte ein Ghoul erscheinen, und dessen Geruch spürte Shao noch immer in der Nase.
Der würde auch so bald nicht wieder verschwinden.
Die Chinesin sah, dass sie über einen recht schmalen Weg gingen. Es musste die Strecke sein, die Suko in seinen Beschreibungen gemeint hatte.
In der Dunkelheit waren irgendwelche Hindernisse nur schwer oder erst im letzten Moment zu erkennen. Manche Pflanzen wuchsen über den Pfad hinweg und breiteten sich auf dem Boden aus.
Die Grabsteine standen auf den Gräbern wie einsame Wächter.
Shini bewegte sich sehr sicher. Das sah Shao, die hinter dem Gruftie herging. Sie kannte sich aus.
Für Shao war diese Person ein Rätsel. Sie überlegte, ob Shini alles so meinte, wie sie es sagte, oder ob sie nur eine Rolle spielte. Gab es vielleicht eine Verbindung zwischen Shini und den Ghouls?
Wie stand sie zu diesen Wesen?
Shini blieb stehen, als sie eine andere Umgebung erreicht hatten. Es war so etwas wie eine Ruhezone des Friedhofs. Auch der Steinbottich fiel Shao auf. Ihr war jetzt klar, dass sie es bis zu ihrem eigentlichen Ziel nicht mehr weit hatte.
Shini wollte sie danach nicht fragen. Außerdem war die junge Frau beschäftigt. Sie ließ ihren Blick schweifen und drehte sich dabei langsam auf der Stelle.
»Was ist los?«, fragte Shao leise.
»Ich will nur erkunden, ob die Luft rein ist.«
Die Chinesin musste leise lachen.
»Warum willst du das? Du hast doch nichts zu befürchten.«
»Bist du dir da so sicher?«
»Davon gehe ich aus.«
Shinis Stimme klang hart. »Warte es ab. Kann sein, kann auch nicht sein. Aber die Luft scheint tatsächlich rein zu sein.« Sie schnupperte. »Ich rieche kaum etwas.«
Das war bei Shao auch der Fall, aber der ekelhafte Gestank steckte trotzdem noch in ihrer Nase. Sie wusste auch, dass sie ihn so schnell nicht wieder loswerden würde.
Shini nickte Shao zu. »Bringen wir es hinter uns!«
Sie drehte sich um. Dann schritt sie zielsicher los, als wäre sie diesen Weg schon öfter gegangen.
Shao stellte keine Fragen mehr. Sie wollte nur noch Suko finden, alles andere war ihr im Moment gleichgültig.
In dieser Gegend war es stockdunkel. Es lag an den hohen, dichten Büschen, die an den Grabrändern wuchsen. Hinzu kamen die Kronen der mächtigen Bäume, die ein natürliches Dach bildeten.
Alte Gräber reihten sich hier aneinander. Feuchtigkeit schwebte in der Luft, und zwischen den Büschen hing manch dünner Schleier.
Shini breitete die Arme aus, als sie die Stelle erreicht hatte, zu der sie hinwollten.
Shao wartete noch. Ihr Herz klopfte wieder schneller.
Suko hatte sich noch nicht gemeldet. Wahrscheinlich hatte er ihr Kommen noch nicht gehört.
»Da ist die Fallgrube!«
Shao stellte sich neben ihre Führerin. Sie senkte den Blick und brauchte ihre Lampe nicht, um die Öffnung im Boden zu erkennen. Sie war groß genug, um einen Menschen schlucken zu können.
Und dann wurde sie von einem Gefühl der Freude und der Erleichterung erfüllt, als Sukos Stimme ihre Ohren erreichte.
»He, ist da jemand?«
»Ich bin es!«
Sukos Antwort bestand aus einem erleichterten Lachen. Einen Moment später schickte Suko den Strahl seiner Leuchte in die Höhe, der auch den Rand der Fallgrube erreichte.
Shao schaltete ebenfalls ihre Lampe ein, bückte sich und leuchtete in die Tiefe. Sie sah ihren Partner, der mit einer Hand winkte.
»Ich habe auch das Seil«, flüsterte sie.
»Gut, dann binde es an einem Baumstamm fest. Lang genug wird es doch sein, oder?«
»Ich denke schon.«
Suko war irgendwie aufgefallen, dass er es nicht nur mit Shao zu tun hatte. Deshalb fragte er: »Ist noch jemand bei dir, Shao?«
»Ja, Shini. Es ist die junge Frau, die schon zu dir in die Grube geschaut hat.«
»Und warum ist sie bei dir?«
Shao warf Shini einen schnellen Blick zu. »Ich denke, dass sie uns helfen wird.«
»Na gut.«
Shao schaltete ihre Leuchte aus. »Wir machen uns jetzt an die Arbeit.«
Shini stand etwas entfernt und wurde von Shao angesprochen. »Hilfst du mir?«
»Klar. Aber wir sollten uns beeilen. Hier kann man für nichts garantieren.«
Das sah Shao auch so. Der Friedhof war das Gebiet der Ghouls, und sie
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