1588 - Die falsche Kette
die Berge gestiegen. Im hellen Mondlicht leuchtete der fremde kleine Kima-Strauch in strahlendem Weiß.
Dorina Vaccer stieg aus. Dabei stellte sie fest, daß das Schwindelgefühl vollständig verschwunden war.
Sie besah sich die Pflanze aus der Nähe.
Es war ein sehr junger Strauch. Die oberen Zweige reichten der Friedensstifterin knapp bis ans Kinn. Der Aufbau der Pflanze war locker und harmonisch.
Aber jetzt war diese Harmonie gestört.
Es waren viel zu viele Blüten an diesem Strauch.
Die unerwartete Blütenfülle erweckte den Eindruck, als sei dieses Gewächs ausnehmend gut entwickelt. Sah man aber genauer hin, dann verlor die weiße Pracht ihren Reiz, denn die meisten Blüten wirkten seltsam unvollkommen.
Offensichtlich hatten sich über Nacht sämtliche Knospen geöffnet; auch jene, die eigentlich noch mehrere Tage gebraucht hätten, um sich zu ihrer vollen Größe zu entwickeln. Jetzt waren sie viel zu früh erblüht. Aber warum? dachte Dorina Vaccer. Was ist mit diesem Strauch geschehen?
Es gab nur eine einzige Erklärung für diesen plötzlichen Entwicklungssprung: Es mußte etwas damit zu tun haben, daß Dorina Vaccer den Strauch berührt hatte.
Aber wie konnte eine Berührung einen Kima-Strauch zum Blühen bringen?
Ich muß irgend etwas auf ihn übertragen haben, überlegte Dorina Vaccer. Auf ihn - und auch auf meinen eigenen Kima-Strauch. Was hier und jetzt geschehen ist, das könnte bedeuten, daß der Zellaktivator gar nicht direkt für das monströse Wachstum meines Kima-Strauchs verantwortlich ist. Ich selbst bin es, die dieses Wuchern auslöst. Nicht nur bei meinem eigenen Strauch, sondern auch bei jedem anderen, den ich berühre.
Normalerweise hütete sich jeder Linguide davor, einen fremden Kima-Strauch anzufassen, aber es gab auch.
Ausnahmen von dieser Regel.
Gewisse Krankheiten schienen ihren Ursprung in den Sträuchern zu haben. Niemand wußte, wie die Zusammenhänge lagen, aber es galt als erwiesen, daß ein Linguide, der das Talent besaß, solche Krankheiten manchmal von einer Sekunde zur anderen heilen konnte, indem er einfach nur den Kima-Strauch des Kranken berührte.
Aber noch nie hatte eine solche Berührung eines Kima-Strauchs durch einen Fremden derart dramatische Folgen für die Pflanze nach sich gezogen, wie es hier und jetzt der Fall war.
Dorina Vaccer blickte nachdenklich ins Tal hinab.
Sie fragte sich, zu wem der kleine Strauch wohl gehören mochte.
Sie sagte sich, daß sie es sich im Augenblick wirklich nicht leisten konnte, hier auf Lingora Aufsehen zu erregen.
Sie befand sich auf halbem Weg zwischen Sharinam und Zonai. Wenn die aktivatortragenden Friedensstifter erfuhren, daß man Dorina Vaccer hier, in dieser Gegend, gesehen hatte, konnten sie leicht die richtigen Schlüsse ziehen.
Trotzdem drängte es Dorina Vaccer, sich mit eigenen Augen davon zu überzeugen, daß ihr momentanes Wohlbefinden nicht auf Kosten der Gesundheit eines anderen Linguiden zustande gekommen war.
Hier geht es doch nicht nur um das Schicksal eines einzelnen, dachte die Friedensstifterin. Es steht viel mehr auf dem Spiel. Ich habe unter diesen Umständen nicht das Recht, meinen Gefühlen zu folgen.
Aber dann brachte sie es doch nicht fertig, einfach davonzufliegen und die Sache auf sich beruhen zu lassen.
Außerdem - so dachte sie - war dies eine möglicherweise einmalige Gelegenheit, zusätzliche Informationen über die Kima-Sträucher zu erhalten.
Unten im Tal waren überall Ansammlungen von dunkelgrünen Kugeln zu erkennen - Tampak-Pflanzen. Die Zweigspitzen dieser Pflanzen wurden regelmäßig abgeerntet. Dadurch bekamen die Sträucher im Lauf vieler Jahre diese eigenartige Form.
Tampak-Pflanzen waren viel zu empfindlich und auch viel zu wertvoll, als daß man sie der Fürsorge von Robotern überlassen hätte. Also mußte es hier irgendwo eine Siedlung geben. Es war sehr wahrscheinlich, daß der linguidische Partner des kleinen Kima-Strauchs in dieser Siedlung zu finden war.
Schon hinter der nächsten Biegung des engen, gewundenen Tals stieß Dorina Vaccer auf das Dorf der Tampak-Bauern.
Die Siedlung bestand aus zehn Gehöften. Es waren sehr alte Gebäude, im Lauf vieler Generationen durch Anbauten und Aufstockungen fast wie lebende Organismen gewachsen und den wechselnden Bedürfnissen der Bewohner angepaßt.
Die Friedensstifterin ließ den Gleiter landen und stieg aus.
Der Geruch nach Tampak erfüllte den ganzen Ort: ein würziger, harziger Duft, süß und scharf wie das
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