1588 - Die falsche Kette
Tampak-Bauern starrten die Friedensstifterin feindselig an. Es war ihnen deutlich anzusehen, daß sie nur einen einzigen Wunsch hatten: Dorina Vaccer so schnell wie möglich loszuwerden.
Im übrigen würden sie sich nach den Anweisungen der Friedensstifterin richten.
Aber sie würden es ohne innere Einsicht tun.
Sie haben Angst vor mir, dachte Dorina Vaccer bitter. Mir scheint, wir Friedensstifter haben es weit gebracht.
Und das in so kurzer Zeit!
Sie riß sich zusammen. „Habt ihr einen Becher Tampak für mich?" fragte sie. „Ich bin am Verdursten!"
Die Tampak-Bauern warfen sich verlegene Blicke zu. Dann begannen einige von ihnen zu lächeln.
Dorina Vaccer begann noch einmal von vorne - sanfter und geduldiger als beim erstenmal.
Diesmal hatte sie mehr Erfolg.
Wenig später verließ sie das Dorf der Tampak-Bauern und kehrte zu Nica Horjas Kima-Strauch zurück.
Die Pflanze hatte den Schock immer noch nicht überwunden. Immer neue Knospen öffneten sich und entfalteten sich zu immer kleineren Blüten. Die ganz kleinen, die jetzt erblühten, hatten noch gar keine richtigen Blumenblätter. Sie bestanden praktisch nur aus Stempeln und Staubblättern und wirkten seltsam nackt.
Bei diesem Anblick wurde sich die Friedensstifterin plötzlich der Tatsache bewußt, daß sie noch niemals reife Früchte an einem Kima-Strauch gesehen hatte. Gelegentlich erschienen junge Samenkapseln zwischen den Blättern, aber sie fielen stets schon nach kurzer Zeit ab.
Dorina Vaccer wußte, daß es auf Lingora Pflanzen gab, die offensichtlich mit den Kima-Sträuchern verwandt waren. Diese Pflanzen konnten die Kima-Sträucher jedoch nicht ersetzen.
Wilde Kima-Sträucher hatte man nie gefunden.
Es schien, als seien diese Pflanzen ohne die Hilfe der Linguiden nicht fähig, für die Erhaltung ihrer Art zu sorgen. Eine Fortpflanzung durch Samenkörner war ihnen nicht möglich. Sie brachten auch keine Ableger hervor.
Die einzige Methode, sie zu vermehren, bestand darin, Stecklinge von ihren Zweigen zu schneiden.
Die Tradition gebot, daß man nur dann einen Steckling heranzog, wenn ein Kind unterwegs war.
Dieselbe Tradition verlangte aber auch, daß kein Linguide ohne einen Kima-Strauch aufwachsen durfte. „Wer und was bist du?" fragte Dorina Vaccer den fremden kleinen Strauch aus einem plötzlichen Impuls heraus.
Sie erinnerte sich daran, daß sie schon als Kind versucht hatte, mit ihrem Kima-Strauch zu sprechen.
Im Lauf der Zeit hatte sie einsehen müssen, daß eine Verständigung mit Pflanzen zwar nicht grundsätzlich unmöglich war, sich aber normalerweise nicht oder nur schlecht praktizieren ließ.
Es gab Ausnahmen, die diese Regel bestätigten. Hagea Scoffy hatte zum Beispiel auf Dauho Kontakt zu einer bestimmten Art von Bäumen aufgenommen. Man mußte sich allerdings fragen, ob man Wesen wie diese Bäume, die ihre Äste willkürlich bewegen und auf diese Weise „sprechen" konnten, überhaupt noch als Pflanzen bezeichnen durfte.
Normale Pflanzen gaben keine derartigen Signale, und dementsprechend war es fast aussichtslos, sich mit ihnen verständigen zu wollen.
Zum einen war es der Zeitfaktor, der derartige Versuche so schwierig machte. Die Physiologie der Pflanzen ließ schnelle, direkte Reaktionen im allgemeinen nicht zu. Zum anderen war es so gut wie unmöglich, die Kommunikationsmittel der einzelnen Pflanzenarten vollständig zu erfassen, geschweige denn nachzuahmen.
Pflanzen lebten in ihren eigenen, für animalische Lebensformen weitgehend unzugänglichen Realitäten. Es waren Realitäten, die sich aus den speziellen Wahrnehmungsformen der Pflanzen ergaben: Weltbilder, die wahrscheinlich in erster Linie durch chemische Reize geprägt wurden.
Es war selbst für Linguiden sehr schwierig, sich in eine Realität hineinzuversetzen, in der zum Beispiel das Licht ein Nahrungsmittel darstellte und jede Art von Fortbewegung unbekannt war.
Wie müßte eine pflanzliche Intelligenz unter diesen Voraussetzungen beschaffen sein? fragte sich Dorina Vaccer.
Waren die Kima-Sträucher womöglich solche pflanzlichen Intelligenzen?
Die Friedensstifterin erinnerte sich in plötzlichem Erschrecken an die Art und Weise, in der der Zellaktivator an ihrem Kima-Strauch gehangen hatte.
War dieser lebenspendende Apparat am Ende gar nicht für Dorina Vaccer bestimmt gewesen, sondern für die Pflanze?
Die Friedensstifterin musterte den fremden Kima-Strauch nachdenklich.
Sie fragte sich, ob nicht vielleicht alle Linguiden insgeheim von
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