1592 - Der Tiermensch
war nicht mehr vorhanden. Die Bäume um sie herum standen zu dicht, aber sie war froh, dass sie ihr Geheimnis noch hatte bewahren können.
Carlotta wollte Morgana ansprechen. Sie schaffte es nicht mehr, denn sie musste mit ansehen, wie sich die Person vor ihr verwandelte und ihr zweites Ich zum Vorschein kam.
Dazu brauchte sie weder die Nacht noch den Mondschein. Es geschah bei Tageslicht hier im Wald und direkt vor den Augen einer entsetzten Zuschauerin.
Es war ein Phänomen, das sie bisher nur bei diesem Biologen gesehen hatte. Da spross plötzlich das Fell aus jeder Pore hervor. Da verzerrte und veränderte sich ihr Mund, sodass sich eine feuchte Schnauze bildete, die halb offen stand und gefährliche Reißzähne zeigte. Die Augen zogen sich in die Breite und erinnerten Carlotta an Schlitze, in denen sich ein kaltes Licht fing.
Die Verwandlung war mit einem Stöhnen und leicht schmatzenden Geräuschen verbunden. Hin und wieder keuchte Morgana. Sie drehte sich auf der Stelle, und ab und zu zuckte ihr Kopf in die Höhe.
Es gab jetzt kein Gesicht mehr. Was vor Kurzem noch ein Menschenkopf gewesen war, gehörte nun einem Tier und war mit dem eines Wolfes durchaus zu vergleichen. Wie komme ich von hier weg?
Es war eine Frage, die sich Carlotta permanent stellte, nur fand sie keine Antwort darauf. Sie besaß keine Waffe, mit der sie sich hätte verteidigen können. Nach wie vor lag ihr Schicksal in der Hand der Werwölfin, die ihren Oberkörper jetzt nach vorn beugte, das Maul noch weiter aufriss und damit demonstrierte, was sie in den folgenden Sekunden vorhatte.
Noch blieb Carlotta eine Galgenfrist. Ihre Feindin schien nach einer Stelle zu suchen, wo sie den Biss ansetzen konnte. Als sie diese gefunden hatte, nickte sie, und das Vogelmädchen verlor schon alle Hoffnung, als etwas eintrat, was ihre Galgenfrist verlängerte und sogar einen Funken Hoffnung in ihr aufsteigen ließ.
Sie hörte einen Schuss.
Aber nicht nur sie.
Auch Morgana hatte ihn vernommen. Sie zuckte wieder hoch. Plötzlich war Carlotta nicht mehr interessant für sie.
Morgana ging einige Schritte zur Seite, wo sie eine bessere Sicht hatte, aber auch sie konnte die Bäume nicht wegzaubern.
Der Schuss, das Echo, das nun verklungen war. Dieser Vorgang deutete darauf hin. Dass Carlotta und die Bestie nicht allein im Wald waren. Da musste John Sinclair geschossen haben, und wahrscheinlich war er vorher auf den Tiermenschen gestoßen.
Er und Maxine hatten nicht aufgegeben, sie zu suchen. Aber würde die Zeit reichen, um rechtzeitig genug hier zu sein?
Es war ihr nicht möglich, einen normalen Gedanken zu fassen. Sie hatte das Gefühl, dass sich der Wald um sie herum immer schneller drehte, und als sie sich in die Höhe stemmte, fuhr Morgana herum.
»Na, wolltest du fliehen?«
Carlotta schwieg. Sie lauschte nur auf ihren eigenen hämmernden Herzschlag.
»Du denkst an deine Helfer, wie?«, zischte die Werwölfin.
»Ich hab dir nichts getan, und ich…«
»Das stimmt wohl. Aber es spielt keine Rolle, ob du mir was getan hast oder nicht. Du bist ein Baustein in meinem Plan, und du wirst mich dabei nicht stören.«
Kamen John und Maxine?
Carlotta hörte nichts in ihrer Nähe. Kein Rascheln des Laubes, keine schnellen Schritte, keine Rufe - nur die Geräusche, die von Morgana stammten, umgaben sie.
War das der Vorbote des Todes? Kündigte er sich auf diese Weise an?
Sie hatte sich darüber bisher keine Gedanken gemacht, aber so konnte es sein. Der Tod hatte viele Gesichter. Er trat in den verschiedensten Masken auf.
Sie würde es nicht mehr schaffen. Das Gesicht Morgana Laytons, das keines mehr war, schwebte über ihr. Sie sah auch, wie die Krallen anfingen zu zucken, und sie musste damit rechnen, dass sie im nächsten Moment zuschlugen.
Sie griffen zu.
Zum ersten Mal erlebte Carlotta, welche Kraft in dieser Unperson steckte. Sie zerrte einen Menschen vom Boden hoch, als wäre er so leicht wie eine Feder.
Plötzlich sah Carlotta die Fratze der Bestie dicht vor sich. Und sie nahm zum ersten Mal den Geruch wahr, der von dieser hässlichen Gestalt ausging.
Ein scharfer und beißender Geruch. Ein Gestank, der aus ihrer offenen Mundhöhle drang und ihr ins Gesicht wehte. Sie drehte den Kopf auch nicht zur Seite, als sie sah, dass dieses mörderische Gebiss immer näher an sie herankam.
Sie tat etwas ganz anderes.
Sie schrie wie noch nie in ihrem Leben!
***
Ob ihr Schrei etwas bringen würde, wusste Carlotta nicht. Sie hatte einfach
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