1597 - Abschied von der Unsterblichkei
nicht mehr gesehen hatte.
Aber die Brüder und Schwestern mit dem schwarzen Stirnkreis waren überall zu finden, so wie Anna es gesagt hatte. Inzwischen scharten sich die Leute um sie. Ja, alle wußten sie es. Alle wußten, daß sie sterben würden, untergehen in dem dunklen Moloch, der alles fraß. Alle paar Stunden kam die Vision vom Tod über sie. Alle paar Stunden legte eine Depression sie lahm, die ihnen die letzten Kräfte raubte, den Glauben an das Leben und sogar den Glauben an den Tod.
Da war nur noch gar nichts mehr.
Und genau dagegen sträubte sich die junge Marsianerin, so wie die vielen anderen intelligenten, meist jungen Leute, die sich den schwarzen Kreis auf die Stirn malten.
Ihr Ende sollte einen Sinn haben. Nachträglich sollte ihr Leben nicht umsonst gewesen sein. Sie würde sterben, so wie sie es in ihren schlimmen Träumen vorgezeichnet sah, aber nicht allein. Viele würden stolz in den Tod gehen, gemeinsam in eine neue Existenz übertreten. Das Nichts, der Moloch, konnte nicht das Ende sein.
Sie würden singen und um Hilfe rufen, so wie in diesem inneren schwarzen Abgrund etwas um Hilfe rief. Es war wie ein Monster, dessen lange Tentakel sich nach dem Geist ausstreckten, um ihn zu sich zu holen.
Irgendwann in dieser Nacht schlief Noro ein und träumte von einem einsamen Planeten, auf dem sie stand, und auf den eine uralte, ebenfalls im Sterben begriffene Sonne herableuchtete, rot und riesig. Am Himmel standen keine Sterne mehr. Und sie ließ ihren Körper hinter sich und flog in diese rote Glut der sterbenden Sonne, bis sie verbrannte ...
Als sie am Morgen aufwachte, war das Bett neben ihr leer.
Jeth war verschwunden, und der Tablettenspender auf seinem Nachttisch war leer.
Er hatte sie alle geschluckt und befand sich bei dieser Dosis jetzt wahrscheinlich irgendwo auf einem Horrortrip, in der Siedlung, in einer Stadt, oder im Park.
Ein Ende ohne Jeth konnte Noro sich nicht vorstellen. Sie wollte es nicht. Sie warf sich aus dem Bett, zog sich an und kämpfte sich durch eine neue Welle der Angst und der Depression, bis sie aus der Wohnanlage heraus war und einen Gleiter bestieg, der gerade zurückgekehrt war. „Schwester!" rief eine bekannte Stimme. Anna sprang zu ihr in den Gleiter. „Nimm mich mit."
„Warum?" fragte Noro. Ihr fiel ein, daß sie überhaupt nicht zurechtgemacht war und aussehen mußte wie eine alte Schlampe. Anna küßte sie auf die Wange und zeigte auf das Zeichen auf ihrer Stirn. „Ich habe hier auf einen Transport in den Park gewartet. Du hast mir den Gleiter vor der Nase weggeschnappt, aber das ist nicht schlimm. Ich habe gehofft, daß wir uns wieder begegnen."
„Ich auch", mußte Noro zugeben. „Dann gibt das Ziel ein. Der alte Pavillon im Prydania-Park."
„Das Mekka aller Verliebten in dieser Gegend des Mars?" fragte Noro überrascht. Noch vor Tagen, als die Welt noch in Ordnung war, hatte sie ja mit Jeth eigentlich dorthin gewollt. „Genau dorthin", sagte Anna. Sie lächelte, und wieder sah Noro die tiefe Traurigkeit in diesem Lächeln. „Wir alle werden uns dort treffen und vorbereiten. Es werden Hunderte sein."
„Vorbereiten?" fragte Noro, als sie schon das Ziel eingab und der Gleiter sanft abhob. „Worauf?"
„Auf die letzte Stunde", erwiderte Anna. Ihre Stimme klang sanft, wie von einer Priesterin. Aber Noro sah die Verzweiflung in ihren Augen und den unglaublichen Mut und die Kraft, sich nicht ohne weiteres einem grausamen Schicksal zu ergeben, sondern in Würde aus diesem Leben zu gehen. Selbst zu bestimmen, wann es soweit war. Sie mußte noch schwerer leiden als Noro, vielleicht mehr noch als Jeth. Aber sie hatte die Kraft, diese Qualen zu meistern.
Woher? Wer war sie wirklich? „Ich wollte Jeth suchen, meinen Gefährten."
„Ich weiß", sagte Anna. „Du wirst ihn dort finden."
Noro glaubte es ihr aufs Wort.
6.
22. März 1174 NGZ; EIDOLON Paunaros Nachricht bestand zunächst einmal darin, daß sich seine zweihundertvierzig Artgenossen nun endgültig vom sogenannten ES-Syndrom erholt hätten. So war das bezeichnet worden, was den 240 Nakken im Dezember 1173 NGZ bei dem Versuch zugestoßen war, mit dem ihnen zur Verfügung gestellten 200-Meter-Kugelschiff CATALINA MORANI nach Wanderer und zu ES zu gelangen. Irgendwie hatten sie das geschafft, doch als sie ins Normaluniversum zurückkehrten, waren sie vollkommen verstört und apathisch.
Sie hatten ihre technischen Lebenshilfen abgelegt, und ES’ Bote Ernst Ellert mußte das
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