16 Uhr 50 ab Paddington
schert das auch nicht. Er weiß genau, was hier passieren wird, wenn er mal nicht mehr ist – die jungen Herren werden in Windeseile verkaufen. Warten bloß darauf, dass er ins Gras beißt. Die kriegen nach seinem Tod ein hübsches Sümmchen, hab ich mir sagen lassen.»
«Dann ist er also ein reicher Mann?», fragte Lucy.
«Crackenthorpes Fancies, die Pralinen müssen Sie doch kennen. Der alte Herr hat das aufgebaut, Mr. Crackenthorpes Vater. Ganz gewiefter Bursche, nach allem, was man hört. Hat ein Vermögen gemacht und den Landsitz gebaut. Zäh wie Leder, heißt es, und kolossal nachtragend. Aber er war wenigstens noch freigebig. Keine Spur von Geizkragen. Soll von seinen beiden Söhnen enttäuscht gewesen sein. Hat ihnen eine anständige Erziehung gegeben und sie zu Gentlemen gemacht – Oxford und so. Aber beide waren zu sehr Gentlemen, um in den Familienbetrieb einzusteigen. Der jüngere hat eine Schauspielerin geheiratet, und dann setzt er sich betrunken ans Steuer und kratzt bei einem Verkehrsunfall ab. Für den älteren, unseren hier, hatte der Vater sowieso nie viel übrig. Der war viel im Ausland, hat haufenweise heidnische Statuen gekauft und nach Hause geschickt. Als junger Mann war er noch nicht so knickerig – das ist er erst mit den Jahren geworden. Nein, die sind nie besonders miteinander ausgekommen, er und sein Vater, jedenfalls habe ich das gehört.»
Lucy mimte höfliches Interesse und verarbeitete diese Neuigkeiten. Der alte Mann lehnte sich an eine Mauer und machte sich an die Fortsetzung seines Familienepos. Für das Reden hatte er mehr übrig als für das Arbeiten.
«Ist vor dem Krieg gestorben, der alte Herr. War fürchterlich jähzornig. War nicht ratsam, sich mit ihm anzulegen, das ließ er sich nicht bieten.»
«Und nach dem Krieg ist dann der heutige Mr. Crackenthorpe hierher gezogen, ja?»
«Mit seiner Familie, ja. Die Kinder waren da ja schon fast groß.»
«Aber wie… oh, jetzt verstehe ich, Sie meinen den Ersten Weltkrieg.»
«Nein, den meine ich nicht. Er ist 1928 gestorben, so wahr ich hier stehe.»
Lucy sah ein, dass 1928 in der Tat «vor dem Krieg» war, auch wenn sie es nicht so ausgedrückt hätte.
Sie sagte: «Tja, ich nehme an, Sie wollen sich wieder an Ihre Arbeit machen. Ich sollte Sie nicht länger aufhalten.»
«Ach», sagte der alte Hillman lustlos, «so spät am Tag kann man nicht mehr viel machen. Das Licht ist zu schlecht.»
Auf dem Rückweg ins Haus blieb Lucy noch einmal stehen und untersuchte ein viel versprechendes Gebüsch aus jungen Birken und Azaleen.
In der Halle stieß sie auf Emma Crackenthorpe, die einen Brief las. Die Nachmittagspost war soeben eingetroffen.
«Mein Neffe kommt morgen her – mit einem Klassenkameraden. Alexanders Zimmer ist das über der Veranda. Das daneben können wir James Stoddart-West anbieten. Beide können das Badezimmer gegenüber benutzen.»
«Sehr wohl, Miss Crackenthorpe. Ich werde die Zimmer herrichten.»
«Sie kommen morgen Vormittag.» Sie zögerte. «Ich nehme an, sie bringen einen Bärenhunger mit.»
«Das möchte ich meinen», sagte Lucy. «Was halten Sie von Roastbeef? Und vielleicht Sirupkuchen?»
«Alexander ist ganz versessen auf Sirupkuchen.»
Die Jungen trafen pünktlich ein. Beide hatten gepflegte Haare, verdächtig engelhafte Gesichter und ausgezeichnete Manieren. Alexander Eastley hatte blonde Haare und blaue Augen, Stoddart-West war dunkel und trug eine Brille.
Beim Mittagessen erörterten sie gravitätisch Ereignisse aus der Welt des Sports und bezogen gelegentlich die neuesten Zukunftsromane ins Gespräch ein. Sie klangen wie alte Professoren bei einer Diskussion über prähistorische Faustkeile. Im Vergleich zu ihnen kam sich Lucy richtig jung vor.
Das Lendenfilet verschwand im Handumdrehen, und der Sirupkuchen wurde bis zum letzten Krümel aufgegessen.
Mr. Crackenthorpe grummelte: «Ihr beiden esst mir noch die Haare vom Kopf.»
Alexander warf ihm aus seinen blauen Augen einen tadelnden Blick zu.
«Wir können uns von Käse und Brot ernähren, wenn du dir Fleisch nicht leisten kannst, Großvater.»
«Leisten? Ich kann es mir leisten. Ich mag nur keine Verschwendung.»
«Wir haben nichts verschwendet, Sir», sagte Stoddart-West mit einem Blick auf seinen Teller, der diese Aussage deutlich bestätigte.
«Ihr Jungen esst doppelt so viel wie ich.»
«Wir sind in der Wachstumsphase», erklärte Alexander. «Unsere Körper brauchen sehr viele Proteine.»
Der alte Mann knurrte.
Als
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