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16 Uhr 50 ab Paddington

16 Uhr 50 ab Paddington

Titel: 16 Uhr 50 ab Paddington Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Agatha Christie
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erwartete.
    «Elspeth!»
    «Jane!»
    Sie küssten sich, und ohne Umschweife brach es aus Mrs. McGillicuddy heraus:
    «O Jane!», rief sie. «Ich habe gerade einen Mord gesehen!»

Zweites Kapitel
    I
     
    G emäß den ehernen Prinzipien ihrer Mutter und Großmutter – dass nämlich nichts eine wahre Lady schockieren oder überraschen könne – zog Miss Marple nur die Augenbrauen hoch, schüttelte den Kopf und sagte:
    «Äußerst betrüblich, Elspeth, und ganz sicher äußerst ungewöhnlich. Am besten erzählst du es mir auf der Stelle.»
    Genau das hatte Mrs. McGillicuddy vor. Sie ließ sich von ihrer Gastgeberin ans Kaminfeuer bringen, setzte sich, zupfte die Handschuhe von den Fingern und stürzte sich in eine lebhafte Erzählung.
    Miss Marple war ganz Ohr. Als Mrs. McGillicuddy endlich Atem schöpfen musste, sagte sie mit entschlossener Stimme:
    «Liebes, ich glaube, es ist das Beste, wenn du erst einmal nach oben gehst, deinen Hut ablegst und dich frisch machst. Dann essen wir zu Abend – wobei wir das alles mit keinem Wort erwähnen wollen. Nach dem Essen beschäftigen wir uns dann eingehend damit und erörtern die Angelegenheit von allen Seiten.»
    Mrs. McGillicuddy war mit diesem Vorschlag einverstanden. Die beiden Damen aßen zu Abend und unterhielten sich unterdessen über Gott und die Welt, wie sich diese im Dorf St. Mary Mead darboten. Miss Marple ließ sich über das allgemeine Misstrauen dem neuen Organisten gegenüber aus, schilderte den jüngsten Skandal um die Frau des Apothekers und erwähnte kurz die Spannungen zwischen der Lehrerin und dem Village Institute. Dann sprachen sie über Miss Marples und Mrs. McGillicuddys Gärten.
    «Pfingstrosen sind rätselhafte Pflanzen», sagte Miss Marple, als sie die Tafel aufhoben. «Entweder gedeihen sie – oder nicht. Aber wenn sie einmal eingewurzelt sind, begleiten sie dich praktisch durchs ganze Leben, und heutzutage gibt es wirklich die herrlichsten Arten.»
    Sie machten es sich wieder am Kamin gemütlich, Miss Marple holte zwei alte Waterford-Gläser aus einem Eckschrank und zauberte aus einem anderen Schrank eine Flasche hervor.
    «Du bekommst heute Abend keinen Kaffee, Elspeth», sagte sie. «Du bist überreizt (und wer wäre das nicht?) und liegst sonst die ganze Nacht wach. Ich verordne dir daher ein Glas von meinem Schlüsselblumenwein und später vielleicht noch ein Tässchen Kamillentee.»
    Mrs. McGillicuddy fügte sich diesen Anordnungen, und Miss Marple schenkte den Wein ein.
    «Jane», sagte Mrs. McGillicuddy, nachdem sie anerkennend daran genippt hatte, «du glaubst doch hoffentlich nicht, ich hätte alles bloß geträumt oder es mir eingebildet?»
    «Beileibe nicht», sagte Miss Marple herzlich.
    Mrs. McGillicuddy seufzte erleichtert auf.
    «Der Schaffner hat mir nämlich kein Wort geglaubt», sagte sie. «Er war sehr höflich, aber trotzdem –»
    «Ich fürchte, unter diesen Umständen kann man ihm das nicht verübeln, Elspeth. Es klingt wie – und war ja auch – eine äußerst unwahrscheinliche Geschichte. Und du warst ihm wildfremd. Nein, ich habe nicht den geringsten Zweifel daran, dass du alles so gesehen hast, wie du es schilderst. Es ist sehr außergewöhnlich – aber keineswegs unmöglich. Ich erinnere mich an meine eigene Faszination, als mal ein Zug neben meinem langfuhr, und wie lebhaft und nah alles war, was in den ein oder zwei Abteilen vor sich ging. Ich weiß noch, ein kleines Mädchen spielte mit einem Teddybär, und auf einmal bewarf sie damit einen dicken Mann, der in der Ecke saß und schlief, und er schreckte hoch und war ganz empört, und alle anderen Reisenden mussten schmunzeln. Ich sehe das alles heute noch vor mir und hätte hinterher genau beschreiben können, wie jeder Einzelne aussah und was er anhatte.»
    Mrs. McGillicuddy nickte dankbar.
    «Genau so war es.»
    «Der Mann kehrte dir den Rücken zu, sagst du. Du hast sein Gesicht also nicht gesehen?»
    «Nein.»
    «Und die Frau? Kannst du die beschreiben? War sie jung oder alt?»
    «Eher jung. Zwischen dreißig und fünfunddreißig, schätze ich. Genauer kann ich es nicht sagen.»
    «Hübsch?»
    «Auch das weiß ich nicht. Ihr Gesicht war ja ganz verzerrt und – »
    Miss Marple unterbrach sie schnell:
    «Natürlich, das kann ich mir denken. Was hatte sie an?»
    «Sie trug irgendeinen Pelzmantel, einen hellen Pelz. Keinen Hut. Und sie hatte blonde Haare.»
    «Und du kannst dich an kein auffälliges Merkmal des Mannes erinnern?»
    Mrs. McGillicuddy überlegte

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