1610 Teil 1 - Der letzte Alchimist
weißen Fleck ganz links in meinem Blickfeld, wo sich der Teich befinden musste.
Vorsichtig drehte ich den Kopf.
Wieder spiegelte sich ein weißes Gesicht im Wasser, die Augen weit aufgerissen, der Mund durch die auf dem Kopf stehende Ansicht verzerrt. Massen von offenem weißen Haar schimmerten auf der glatten Wasseroberfläche.
Ich durchbrach die Stille. »Habt keine Angst.«
Das Spiegelbild verschwand. Fels schabte über Fels, und ein Kieselstein fiel in den Teich.
Ich machte mehrere schnelle Schritte und stürmte durchs Wasser. Dann duckte ich mich und erreichte einen Felsvorsprung, von dem ich schon vermutete hatte, dass er sich dort befand, ansonsten hätten wir die eigentliche Person und nicht nur ihr Spiegelbild gesehen.
Ich blieb stehen und öffnete die Laternenklappe.
Sie blinzelte im gelben Licht.
Eine Frau von kleiner Statur mit bleigrauem Gesicht und silbernem, ungekämmtem Haar. Sie hockte sich auf den Boden, den Rücken gegen die Wand und streckte die Hand aus.
»Bitte, entschuldigt, grand'mère .« Ich sprach ruhig und leise, steckte mein Schwert aber noch nicht weg. – Ich stellte die Laterne in eine natürliche Nische. Die alte Frau war von der Art, wie Bauern sie gerne ›Hexe‹ nennen.
Sie vergrub die Hände in ihrem schmutzigen, ausgeblichenen Leinenrock und starrte zu mir hinauf. Eine alte Titte hing fast aus ihrem Kittel heraus. Ich bezweifelte, dass sie aufgerichtet mehr als viereinhalb Fuß maß. Das einzig wirklich Dunkle an ihr waren ihre Augen, und die blinzelten mich in einem unregelmäßigen Rhythmus an, der mich mehr an einen Frosch denn an eine Frau gemahnte.
Eine Irre.
»Bitte, entschuldigt«, wiederholte ich in beruhigendem Tonfall und verspottete mich selbst in meinen Gedanken. »Ich habe geglaubt, Ihr wärt etwas, was ich in meinem Bericht erwähnen müsste. Doch nun sehe ich, dass dem nicht so ist. Ich entschuldige mich. Ich werde jetzt gehen.«
Nach all den Jahren als Agent des Herzogs hatte ich die Neigung entwickelt, Verschwörungen und Intrigen zu sehen, wo keine waren. Hier hockte nur eine alte Bäuerin, die man vermutlich aus ihrem Dorf gejagt hatte und die nicht mehr wollte, als nur etwas zu essen.
Im Licht der Laterne sah ich, wie sich ein dicker Tropfen in ihrem Auge sammelte. Er rollte ihre Wange hinunter. Sie rührte sich weder, noch gab sie ein Geräusch von sich. Es war kaum zu sehen, dass sie atmete.
Eine weitere Träne folgte der ersten und rann über die schmutzige Wange. Dann noch eine. Ich öffnete den Mund, um etwas zu sagen, wurde aber unterbrochen. Die alte Frau sprach laut. Allerdings klang ihre Stimme so trocken, dass es einen Augenblick dauerte, bis ich erkannte, dass sie weder Englisch noch Französisch redete.
» No ghe credo !«
Das war eine der Sprachen Italiens, wie ich schließlich zwischen ihrem Schluchzen herausfand. Aus Padua oder Venedig … Mon Dieu , wenigstens kein Florentinisch.
Die alte Frau griff nach unten und starrte mich an. Sie zog ihren Rocksaum hinten hoch. Ich hatte keine Ahnung, warum sie mir ihren dreckigen Unterrock zeigte – und dann legte sie sich den Rock ums Haar wie einen Schal.
Eine sittsame Frau bedeckt stets ihr Haar. Dass diese offenkundig Verrückte sich daran erinnerte, war fast genauso überraschend, wie hier eine fremde Sprache zu hören.
»Wer seid Ihr, grand'mère ?« Ich wiederholte meine Frage ruhig auf Französisch, Englisch und den verschiedenen italienischen Zungen, die ich in Savoyen aufgeschnappt hatte.
» Son Caterina …«
»Catherine.« Langsam, um sie nicht zu beunruhigen, kniete ich mich nieder. Sie kauerte weiter an der Wand, als könne nur die sie aufrecht halten, und obwohl ich nun auch kniete, war sie noch immer deutlich kleiner als ich. Zum Schutz vor dem Laternenlicht kniff sie die Augen zusammen. Ihre von dicken Adern gezeichneten Hände klammerten sich in den Stoff ihres Rocks unter dem Kinn. Ohne das silberne Haar hätte sie alles sein können, von fünfzig Jahren bis siebzig.
Und was wird sie tun, wenn Fludds Männer hier eintreffen?
Ich empfand Mitleid. Es gibt auch in Frankreich Frauen, die man Hexen nennt. Einige von ihnen leiden unter der irrationalen Angst, dass alle Männer ihnen wehtun wollen, während andere ständig mit Stimmen sprechen, die niemand sonst hören kann. Ein paar behaupten sogar, die Stimme Gottes zu hören – wie zum Beispiel Ravaillac –, und halten die Priester auf Trab, um herauszufinden, ob das nun Teufelswerk ist oder nicht.
»Ihr
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