1610 Teil 1 - Der letzte Alchimist
ist es eine ›sie‹!
Die Liebe der Griechen kennt ausgereifte klassische Präzedenzfälle; die Bibel verbietet sie; aber wie auch immer, meine Leidenschaft war sie nie. Seit meinem zwanzigsten Lebensjahr habe ich mich nicht mehr zu jungen Männern hingezogen gefühlt, sondern mich abwechselnd Huren für drei Livre und den Ehegattinnen entgegenkommender Freunde gewidmet.
Und doch saß ich nun hier, und da war dieser Junge, und ich begehrte ihn. Wie konnte ich ihn nur begehren, wo er mich doch wieder und wieder beschämte? Wie konnte es mich nach Schande verlangen? Hatte er mich vielleicht meiner Männlichkeit beraubt, meines Mutes, ja, meiner Selbst?
Der Wirt erschien an der Hoftür, das Gesicht im Schatten der Laterne verborgen, die er in der Hand hielt. Seine Stimme klang besorgt. »Monsieur, kann ich Euch etwas bringen?«
»Macht, dass Ihr mir aus den Augen kommt!«, schnappte ich, und zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich nach meinem Schwert griff wie einer der dummen Schläger in Les Halles. Der Wirt schüttelte den Kopf, murmelte etwas vor sich hin und verschwand wieder nach drinnen. Ich hörte, wie im oberen Stock die Fensterläden geschlossen wurden.
Mit zwei Schritten war ich wieder am Fenster des Schankraums. Ich warf einen letzten Blick durch das Bleiglas. In Decken gehüllte Menschen bedeckten den Boden, dunkle Klumpen im schwachen Licht des Kaminfeuers, das ein Diener gerade löschte. Ich hörte Stimmen, die sich im Dunkeln unterhielten. Was wird nun mit uns geschehen? Werden die Religionskriege erneut ausbrechen? Immerhin haben wir erst zehn Jahre Frieden. Wird es eine Invasion von jenseits der Grenze geben? Feuer, Flut, Kometen am Himmel … Die Menschen rechneten mit allem.
Es war, als fänden sie Trost und im Austausch von Gerüchten und in der körperlichen Nähe, wie Hennen in einem Hühnerstall.
Ich konnte sein Gesicht nicht sehen, doch ich erkannte Darioles schlafende Gestalt. Er lag auf dem Rücken. Ein Fuß ragte über die Bank hinaus, und ein Arm baumelte herab. Er war vollkommen entspannt und schlief tief und friedlich.
Als ich zum Stall zurückkehrte, schlossen sich auch die anderen Fensterläden. Der Gasthof versank in Dunkelheit, wenn auch nicht in Stille. Auf der Straße schimmerte ein schwankendes Licht und erhellte die überhängenden Obergeschosse der umliegenden Häuser. Das waren die Nachtwächter, erkannte ich. Ich bezweifelte, dass sie ihren Auftrag vor dem 14. Mai mit solcher Sorgfalt erfüllt hatten. Ihre Schritte verhallten auf dem nassen Straßenpflaster. Einer von ihnen brüllte laut in die Nacht hinaus.
Ich zog erneut den Dolch aus der Scheide und strich mit dem Zeigefinger über die Schneide. Mit einem leisen Fluch auf den Lippen verließ ich den Stallhof wieder, und die Bewegung trieb schmerzhaft die Kälte aus meinen Füßen. Ich hob die Waffe, um mit dem Knauf auf die verriegelte Gasthoftür zu hämmern, ließ den Dolch jedoch wieder sinken, ohne ihn benutzt zu haben.
Wenn er heute Nacht nicht herauskommt, bleibt immer noch morgen. Doch bis dahin wird er vielleicht schon geplappert haben.
Ich schlief nicht.
Die Sterne zogen von Osten nach Westen über den Himmel. Aus Italien waren dieses Jahr mystische Gerüchte gekommen: Durch ein Glas hatte man Welten gesehen, die den Stern Jupiter umkreisten. Kurz fragte ich mich, ob wohl Menschen auf diesen Welten lebten, und falls ja, ob es auch unter ihnen solche Narren wie Rochefort gab?
Ich werde ihn töten. Das wird allem ein einfaches Ende bereiten. Nur um seines Vergnügens willen kann er Menschen nicht wie Spielzeug behandeln.
Die Lederflasche mit dem Branntwein war noch nicht leer. Ich setzte mich wieder, nahm den Hut ab und lehnte mich erneut gegen die Wand. Sie bestand aus schmalen, römischen Ziegeln, im Sternenlicht kaum zu erkennen. Einst hatte man aus ihnen vermutlich die Villa eines Prokonsuls gebaut; nun bildeten sie eine Unterkunft für Pferde. Die Wand fühlte sich kalt in meinem Rücken an. Ich setzte die Flasche an, legte den Kopf zurück und hustete, als der Alkohol sich meinen Hals hinunterbrannte.
Ich hatte noch niemanden hier gesehen. Doch das hatte nichts zu bedeuten. Immer wieder versuchte ich, Sully Informationen zukommen zu lassen wohlwissend, dass meine Boten jederzeit getötet und meine Briefe abgefangen werden konnten. Mir zu folgen, wäre somit ein Leichtes gewesen. Ich hätte genauso gut Wegweiser hinterlassen können. Aber was hätte ich sonst tun sollen?
Ein wenig amüsiert
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