1610 Teil 1 - Der letzte Alchimist
erwarten.
Die schwarzen Augen und das flache Gesicht des geretteten nihonesischen ›Dämons‹ wandten sich mir zu. Er stammte aus einem weit entfernten Land mit anderen Sitten, anderer Kleidung und dergleichen, und doch sah er sofort …
»Ich habe geglaubt, sie sei Euer Schwertlehrer, ehrenwerter Herr«, sagte der missgestaltete Mann in schlechtem Englisch. »Ich habe gedacht, Ihr seid Samurai und sie Euer Lehrer mit der Klinge.«
Dariole lächelte.
Es war einfacher, ihn als Mann zu sehen. Das Haar, das ihm frei bis auf die Schultern fiel, da er den Hut verloren hatte, war kürzer geschnitten als es bei jeder Frau der Fall ist. Er trug Hosen, kämpfte … Was für eine Frau kämpft?
Es war, als würde ich die Welt von einem neuen Standpunkt aus sehen.
Das war kein junger Mann mit viel zu breitem Hintern, sondern ein heranwachsendes Mädchen, das gerade weibliche Rundungen entwickelte. Und der Mund, der bei einem Jungen weibisch wirkte, war für eine Frau normal. Gleiches galt für die Augenbrauen. Der Schnitt des Wamses betonte zwar nicht ihren Busen, aber …
Ich hatte das Gefühl, als würde meine Welt zerbrechen. Nachdem ich es erst einmal gesehen hatte, konnte ich nicht aufhören, es zu sehen. Ich konnte nicht verstehen, wie ich es je nicht hatte sehen können.
»Danke.« Sie verneigte sich in spöttischer Bescheidenheit, aber ob vor dem ›Dämon‹ oder vor mir, das vermochte ich in meinem Schrecken nicht zu sagen.
»Messire Dariole.« Nach dem Kampf und dieser Enthüllung war meine Stimme nur noch ein peinliches Krächzen. »Messire Dariole, Ihr seid eine Frau.«
Rochefort: Memoiren
Acht
Das gesunde Urteilsvermögen eines Mannes vermag kurzzeitig auszusetzen, wenn er gerade um sein Leben gekämpft hat.
Der Gestank warmen Blutes stieg in Wellen vom Sand auf, nach oben geweht vom Wind, der vom Meer her kam, und allmählich machten sich die Folgen der körperlichen Anstrengung in meinen Muskeln bemerkbar. Ich betrachtete ihr Gesicht, während sie mich über den aufgewühlten Sand hinweg anschaute – und ich fühlte, wie mir der Geduldsfaden riss, als wäre er eine Kniesehne.
» Ihr seid eine Frau ?«
Ich hielt noch immer das Schwert in der Hand. Ich spürte, wie meine Finger sich immer fester um Heft und Fingerring klammerten und ich die Waffe hob. Die junge Frau trat einen Schritt zurück. Was auf ihrem Gesicht erschien, war ein breites, freches Grinsen.
»Ihr habt mich hintergangen!«
Mir war kaum bewusst, dass ich schrie, und ich bezweifele, dass man mein unartikuliertes Brüllen wirklich verstehen konnte. Ich taumelte vorwärts in ausgetretene Löcher, stolperte an Leichen vorbei und wäre fast auf dem lockeren Sand ausgerutscht.
Sie lief weiter vor mir weg, fast tanzend, leichtfüßig wie eine Katze und ohne sich vom unsicheren Untergrund beeindrucken zu lassen. Ein Waffenmeister hätte ihre Fußabdrücke im Sand dazu benutzen können, eine Abhandlung über die Verteidigung zu schreiben.
»Ihr … Du … Du hast einen Narren aus mir gemacht!«
Ich betonte jedes einzelne Wort mit wütenden Tritten in den Sand und den Seetang und schleuderte nasse Sandkörner in die Luft. Das Rauschen des Seewindes übertönte meine Stimme. Blinde Wut ließ mich würgen. Ich war schwerer; sie konnte den Kies und schließlich die Felsen vor mir erreichen. Und dann würde sie laufen wie der Wind und sich vermutlich verstecken bis die Flut kam und die St Willibrod mich unweigerlich von der Küste fortbringen würde …
Verschwitzt und keuchend blieb ich stehen. Die Frau war noch immer fünf Schritt von mir entfernt, sorgfältig darauf bedacht, diesen Abstand auch einzuhalten.
»Du mannweibische Hexe!«
Ich wirbelte herum und rief nach meinem Pferd. Der Gestank nach Blut machte das Tier nervös. Die Stute – und mit ihr all meine Hoffnung auf eine erfolgreiche Verfolgung – galoppierte den Strand hinunter. Sofort drehte ich mich wieder um.
Das Weib hatte drohend die Klingen gehoben.
Das italienische Rapier und der Dolch in ihrem Griff waren noch immer dunkelrot wie auch ihr verdrecktes Wams. Sie stand auf dem Sand, den Führungsfuß vorn, die Schultern gerade und die Klinge zu solch einer perfekten Abwehrposition gehoben, dass sie einfach ein Mann sein musste. Sie konnte nicht das junge Weib sein, dass ich nun sah.
Dariole verlagerte das Gewicht auf die Hüfte, schürzte die Lippen und hauchte mir in perfekter Nachahmung eines weibischen Jünglings einen Kuss zu.
»Ihr habt es nicht
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