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1610 Teil 1 - Der letzte Alchimist

1610 Teil 1 - Der letzte Alchimist

Titel: 1610 Teil 1 - Der letzte Alchimist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Gentle
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schierer Kraft. Dariole ließ seine Klinge die Schneide des Angreifers hinuntergleiten, und die Spitze fuhr dem Mann in den Mund, zertrümmerte Zähne und drang am Hinterkopf wieder heraus.
    Der Lärm und das Schreien wurden vom lauter werdenden Rauschen der Brandung übertönt.
    Zwei von uns starrten sich keuchend an und Blut tropfte von uns in den Sand. Der feuchte Wind drang mir durch Wams und Hose und ließ mich schaudern.
    Ich habe diese Präzision schon einmal gesehen. Bei Zaton.
    Ruhe. Ein verlassener Strand. Keine Bewegung aus Richtung Stadt …
    »Wir hätten zumindest einen am Leben lassen sollen«, sagte ich und atmete schwer. »Um herauszufinden, ob es noch mehr von ihnen gibt … und wo sie ihre Pferde gelassen haben.«
    Dariole wischte sich mit dem Unterarm übers Gesicht, doch das Einzige, was er damit erreichte, waren rote Schmierflecken auf dem feinen Leinen. »Da drüben lebt noch einer – jedenfalls glaube ich das.«
    Dariole stieg über eine Leiche hinweg und bückte sich, um die nächste zu untersuchen: ein blonder Mann mit einer Perle im Ohr. Der Sand unter ihm war dunkel von Blut. Dariole zeigte die Zähne in einem breiten Grinsen, das nichts mit Humor zu tun hatte, sondern nur mit dem Hochgefühl nach einem Kampf: Ich lebe, du lebst, und sie leben nicht mehr.
    »Nein.« Dariole richtete sich wieder auf. »Er ist tot. Ich habe ihn getötet. Wir haben zwölf Männern in genauso vielen Minuten das Leben genommen.«
    Da war ein Leuchten in seinen Augen, und sein Schritt war beschwingt. Das ist es, was manche von uns zu Schlägern macht: das Wissen, dass wir das Leben eines anderen nehmen können, dass wir einen Bewaffneten erschlagen und tun und lassen können, was wir wollen.
    Vier Mann auf einen Streich. Ich schüttelte den Kopf. »Ich muss zugeben, Messire«, sagte ich mit ernster Stimme. »Ihr seid – sehr gut.«
    Er grinste.
    Ich blickte zu den Männern hinunter, die auf wenigen Quadratfuß Sand lagen, ein paar tot, andere vielleicht noch im Sterben.
    »Und Ihr seid sehr dumm«, fügte ich hinzu. »Wenn ich Euch sage, dass Ihr irgendwo bleiben sollt, dann bleibt dort!«
    Sein Grinsen wurde immer breiter. Mein Tadel schien ihn nicht im Mindesten zu beeindrucken. »Das ist ein äußerst hilfreicher Ratschlag, Messire – und das von dem Mann, der mich gerade erschießen wollte!«
    Ich muss gestehen, dass ich ihn anfunkelte. Ein solches Gemetzel gesehen und das Gefecht überlebt zu haben, die Medici-Höflinge tot, und trotzdem musste ich mich weiter mit dem offenbar unlösbaren Problem seiner Gegenwart auseinandersetzen. Das schlug mir schwerer auf den Magen, als ich sagen kann. Ich wäre nicht gerade unglücklich darüber gewesen, hätten er und der ›Dämon‹ bei diesem Schlachten das Leben verloren.
    »Außerdem«, fügte Dariole hinzu, »könnt Ihr mich nicht töten. Ich habe Euch das Leben gerettet.«
    »Ihr? Ihrhabt mir das Leben gerettet?« Ich deutete auf die Leichen am Strand. »Und was, glaubt Ihr, habe ich hier gemacht?«
    Ich hätte noch mehr gesagt, doch der nihonesische ›Dämon‹ wischte sich über den Mund, stand unsicher auf und machte eine Geste, die mir unbekannt war. Als ich erkannte, dass es eine fremdländische Verbeugung war, richtete er den Blick seiner schwarzen Augen auf Monsieur Dariole.
    »Wahrlich«, sagte er auf Englisch, »Ihr seid sehr geschickt, ehrenwerte Dame.«
    Mein erster Gedanke war: Er versteht die Sprache nicht.
    Er war ein Seefahrer, der aus Gott weiß was für einem weit entfernten Land im Osten kam. Kein Wunder, dass er sich mit einer Mischung der Sprachen Englands, Spaniens und Portugals nicht richtig verständlich machen konnte.
    Der Seewind wehte über den aufgewühlten Strand, doch er vertrieb nicht den Geruch von Blut und Scheiße. Der junge Mann Dariole stand reglos da, das blutige Rapier noch immer in der rechten Hand, während sein Dolch nach wie vor aus einem Leichnam ragte. Das Blut trocknete bereits auf seinem Gesicht und seinem Kragen.
    Ein Leuchten erschien in seinen Augen.
    Er lachte, holte sich seinen Dolch und wischte beide Klingen an der Hose ab, damit sie nicht zu schnell rosteten. Die Sonne schien ihm ins Gesicht, und ihr Licht enthüllte jeden einzelnen Makel auf seiner Haut.
    In diesem intensiven Licht sah ich den Schatten von Haar auf seiner Oberlippe. Und es war nichtmehr als ein Schatten – nicht mehr als ein Dreckfleck, den man einfach so wieder abwischen konnte. Die Menschen sehen schlicht, was sie zu sehen

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