1612 - Der letzte Flug der LIATRIS SPICATA
Schergen und Büttel der Solaren Finanzverwaltung keinerlei Gnade, wahrscheinlich nicht einmal als fünfbuchstabigen Begriff im Kreuzworträtsel, geschweige denn in der Praxis. „Geschwindigkeit?"
„Fünfundsechzig Prozent LG", lautete die knappe Antwort aus dem Hintergrund.
Seine letzten Stunden als freier Mann wollte sich Escobar Valdez, Kommandant und Eigner der LIATRIS SPICATA, nicht durch Schlamperei und Nachlässigkeit verderben lassen. „Wie heißt das?"
„Fünfundsechzig Prozent Lichtgeschwindigkeit", wurde die Antwort wiederholt. Valdez behielt seine gramdurchfurchte Miene bei, bis endlich das erlösende Wort fiel: „Kommandant!"
Der Tonfall verriet, daß der Sprecher ein wenig gereizt war. Kein Wunder, nach diesen letzten Monaten lagen bei fast allen die Nervenenden blank und bloß. Escobar Valdez brauchte nur einen Blick zur Seite zu werfen und seine Besatzung zu mustern, um diesen Eindruck bestätigt zu finden.
Individualisten waren sie alle, und sie hatten mehr als vier Monate an Bord dieses Schiffes verbracht, nachdem es irgendwann am 10. Januar unmittelbar nach dem Eintauchen wieder aus der Librationszone in den Normalraum zurückgeplumpst war. Das Wort „plumpsen" war in diesem Zusammenhang nicht als saloppe Redensart aufzufassen, sondern umschrieb drastisch und anschaulich, unter welchen Begleitumständen die LIATRIS SPICATA den Rücksturz in die Dimensionen des Einsteinraumes vollzogen hatte. In einem der Kühlräume des Schiffes lagen zwei Tote, darunter der Navigator der LIATRIS SPICATA. „Okay", murmelte Escobar Valdez; er war kein frommer Mann, aber insgeheim schickte er dennoch ein schnelles Gebet hinauf in den Himmel. Hilf, Herr, hilf uns, und wenn das hier gutgeht, lieber Gott, dann ...
Der Eintritt in die Librationszone vollzog sich, ehe Valdez noch dazu kam, seinen inneren Hilferuf mit heuchlerischen Versprechungen abzurunden.
Es knirschte.
Niemals zuvor hatte Escobar Valdez solch ein Geräusch gehört. Wenn ein Raumschiff, selbst ein so altes wie die LIATRIS SPICATA, einen Linearflug antrat, dann gab es da nichts, was hätte knirschen können.
Aber Escobar Valdez hatte sich nicht verhört.
Das Knirschen war allgegenwärtig. Es war, als ächzte und stöhnte die Natur selbst, als rieben sich die Dimensionen mühsam und schmerzvoll aneinander. Das Geräusch ging durch Mark und Bein, es brachte nicht nur die Bäuchdecke von Escobar Valdez zum Flattern, es stellte ihm auch die Nackenhaare auf, und in seinem Gehirn begannen sich gräßliche Bilder von katastrophalen Szenen purzelbaumartig zu überschlagen.
Im nächsten Augenblick stürzte die LIATRIS SPICATA aus dem Linearraum in das normale Kontinuum zurück.
Das gräßliche Knirschen erstarb, aber nach einer sehr kurzen Schrecksekunde gellten panische Rufe durch die Zentrale.
Auf dem großen Panoramaschirm loderte und toste, formatfüllend und die Zentrale mit gleißendem Licht durchstrahlend, eine blauweiße Sonne. Was das bedeutete, war jedermann an Bord klar. Wenn es der LIATRIS SPICATA nicht sehr schnell gelang, sich aus dem Schwerefeld dieser Sonne zu befreien, war der Untergang des Schiffes besiegelt. Das Schiff mußte unweigerlich in der Sonnenglut vergehen, die an der Oberfläche wahrscheinlich bei zehntausend Grad Kelvin lag, wenn nicht noch höher.
Escobar Valdez stieß einen lästerlichen Fluch aus, den er einmal in einer Gataser-Kneipe aufgeschnappt hatte.
Dieser letzte Flug der LIATRIS SPICATA hatte es wirklich in sich. „Alle Energie auf die Triebwerke!" rief er laut.
Die Besatzung der LIATRIS SPICATA hatte schwere und aufregende Zeiten hinter sich, und das galt nicht nur für die letzten fünf Monate. Das Schiff hatte seine Mucken und Macken, man trieb sich ständig an irgendwelchen äußersten Grenzen herum - an denen des Gesetzes, an denen der Moral, an denen der Physik - und meistens sogar ein Stück jenseits dieser Grenzen, aber im Notfall war diese buntgemischte, zusammengewürfelte Besatzung ein vorzügliches, perfekt aufeinander eingespieltes Team. Nur ein Haufen abgebrühter Individualisten war anscheinend imstande, eine solche Disziplin und Synchronisation zu erreichen.
Die Männer und Frauen reagierten schnell und umsichtig; die Triebwerke der LIATRIS SPICATA wurden hochgefahren. Mit aller Energie stemmte sich das Schiff gegen den unerbittlichen Schwerkraftsog der kleinen Sonne.
Escobar Valdez studierte die Anzeigen.
Die Fahrt der LIATRIS SPICATA schien sich zu vermindern, aber in jeder
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