1615 - Allee der Toten
»Was hindert uns noch daran, der Klinik einen Besuch abzustatten?«
»Nichts«, sagte ich und war schon auf dem Weg zur Tür.
***
Wir mussten fast bis zum Ufer der Themse fahren und praktisch bis zum großen Gelände des Chelsea Royal Hospital. Die Bauten lagen in einem parkähnlichen Gelände, und wer von dort über das Wasser zum anderen Ufer hinschaute, dessen Blick fiel in den Battersea Park, eine der grünen Lungen Londons. Die Klinik, in der sich Lucky Lister befand, war ein graues Haus mit dicken Mauern. Aber kein Zaun umgab es. Wer hineinwollte, der musste klingeln und wurde schon bei seiner Ankunft von den Augen einer Kamera überwacht. Ich hatte mir vom Wagen aus die Telefonnummer besorgt und in der Klinik angerufen. Man hatte mich verbunden, und ich war an einen Arzt geraten mit dem Namen Dr. Clive Fenton. Er war nicht begeistert von unserem Besuch, hatte aber schließlich zugestimmt, denn er wollte es sich nicht mit Scotland Yard verderben. Unser Rover stand auf einem kleinen Parkplatz, und wir meldeten uns an. Durch die Rillen eines Lautsprechers wurden wir ausgefragt, und ich hielt einfach meinen Ausweis gegen das Auge einer der beiden Kameras, wobei ich hoffte, dass dies Eindruck schindete. Das tat es, denn uns wurde geöffnet.
Die schwere Tür schwang vor uns auf. Wir brauchten nicht gegen sie zu drücken. Wir hatten die Außenfassade mit den vergitterten Fenstern noch in guter Erinnerung und waren umso überraschter, als wir das Gegenteil dessen im Innern sahen. Ein heller Bereich tat sich vor uns auf. Bilder mit freundlichen Motiven hingen an den Wänden. Es gab eine Cafeteria, in der einige Patienten saßen, Kaffee tranken und sich dabei mit Besuchern unterhielten.
Eine Anmeldung war ebenfalls vorhanden. Dort saß ein glatzköpfiger Pfleger, über dessen breiten Schultern sich der Stoff eines weißen Kittels spannte. Er schaute uns an, als wären wir zwei Störenfriede, die seinen heiligen Frieden gestört hatten. Im Gegensatz zu seinem körperlichen Aussehen klang seine Stimme recht weich und leise.
»Sie sind die Herren vom Yard?«
»Genau«, sagte Suko und präsentierte ebenfalls seinen Ausweis.
»Warten Sie bitte noch einen Moment. Dr. Fenton dürfte bald bei Ihnen sein.«
»Gern.«
Uns einen Platz zu suchen hatte keinen Sinn, denn ein Mann, der ebenfalls einen weißen Kittel trug, tauchte auf und kam mit schnellen Schritten auf uns zu. Wir hatten schon oft mit Ärzten zu tun gehabt.
Dieser aber war wirklich ein Unikat. Er erinnerte mich an einen Mann, der noch aus der Hippie-Zeit stammte. Sein graues Haar hatte er sehr lang wachsen lassen. Als Pferdeschwanz hing es ihm bis auf den Rücken. Seinem Gesicht sah man an, dass er die fünfzig längst überschritten hatte. Die Haut sah sonnenbraun und zugleich leicht verlebt aus.
»Ich bin Clive Fenton.« Er begrüßte uns mit einem Händedruck, der erstaunlich fest war.
Auch wir sagten unsere Namen. Fenton hörte aufmerksam zu. Er gab einem das Gefühl, dass der Mensch, der mit ihm sprach, ihm sehr wichtig war. Das lag auch am Blick seiner hellen blauen Augen.
»Sie wissen, weshalb wir hier sind?«, fragte ich.
»Ja, das ist mir bekannt. Es geht um Lucky Lister.«
»Genau.«
Der Arzt krauste die Stirn. »Mr. Lister ist ein Problem für uns«, erklärte er.
»Warum?«, fragte Suko.
»Na ja, ich will nicht ins Fachliche abdriften, kann Ihnen jedoch sagen, dass er leidet. Er fühlt sich wie ein Gefangener, was nichts mit seiner Unterkunft zu tun hat. Er hört des Öfteren Stimmen, und das macht ihm schwer zu schaffen.«
»Ist er konkret geworden, was die Stimmen angeht?«
Über Sukos Frage dachte der Arzt etwas länger nach. Seine erste Antwort brachte uns nicht viel weiter. »Ja und nein, würde ich sagen, wenn man versucht, es normal zu nehmen.«
»Was meinen Sie mit normal?«
»Er spricht mit…« Dr. Fenton schüttelte den Kopf. »Nein, das ist falsch angefangen. Er spricht zwar, aber er hört die Stimmen der Toten, und die quälen ihn. Sie machen ihn fertig. Er steht dann immer dicht davor, durchzudrehen und sich selbst etwas anzutun, um sich von dieser Qual zu erlösen.«
»Wie haben Sie ihn behandelt?«
»Mr. Sinclair, man kann über die Pharmazie und die Chemie schimpfen, wie man will. In diesem Fall hilft sie. Wir mussten ihm die entsprechenden Mittel geben, damit wir ihn ruhig stellen konnten.«
»Das heißt, wir können mit ihm reden.«
»Ich denke ja. Trotzdem steht er unter ständiger Beobachtung. Es gab
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