1622 - Sie kamen aus der Totenwelt
das getan hatte, wusste Harry nicht. In der nächsten Sekunde jedoch bekam er die Folgen davon zu spüren.
Der Rabe zuckte noch mal, dann breitete er seine Flügel aus und griff Harry an.
Der war so überrascht, dass er beinahe zu spät reagierte. Er konnte sich nur noch ducken und so das Schlimmste verhindern. Schnabel und Krallen trafen nicht sein Gesicht, sondern die grauen Haare, wobei die Krallen über seine Kopfhaut kratzten.
Dann war der Vogel weg, und Harry richtete sich wieder auf. Er unterdrückte einen Fluch und verbiss sich den Schmerz auf seiner Kopfhaut.
Er schaute in die Höhe, weil er nicht daran glaubte, dass der Rabe verschwunden war.
So war es auch. Das Tier hockte auf der Kante eines Garagendachs und starrte ihn an. Es schien zu überlegen, ob es einen neuen Angriff fliegen sollte oder nicht. Im Moment war das nicht der Fall. So konnte Harry auf seinem Kopf nachtasten, ob die Vogelkrallen dort eine Wunde hinterlassen hatten.
Das war sogar der Fall. Als Harry seine Finger betrachtete, klebte Blut an den Kuppen, und er flüsterte: »Du verdammte kleine Bestie. Na warte…«
Als hätte der Rabe seine Worte gehört, stieß er sich ab. Er flatterte in die Höhe, blieb dann auf der Stelle, und einen Moment später jagte er wieder auf Harry zu.
Der war jetzt gewarnt und wollte nicht erst im letzten Augenblick reagieren.
Er sah, dass der Vogel auf sein Gesicht zielte, wahrscheinlich sogar auf die Augen, und die wollte Harry Stahl behalten.
Er wich nicht zur Seite. Er wollte hier kein Spiel durchziehen, sondern reinen Tisch machen. Er ließ den Vogel auf sich zufliegen, auch wenn ihm das schwerfiel, und genau im richtigen Moment schlug er mit der rechten Faust zu.
Es war ein Volltreffer.
Der Vogel gab einen fast menschlichen Schrei von sich. Er dachte nicht mehr ans Fliegen. Was er tat, war nur noch ein Flattern, und das hielt ihn nicht in der Luft.
Er sackte zu Boden, wo er hart aufschlug, sich trotz wilder Flügelschläge nicht mehr erhob und versuchte, unter den Opel zu kriechen, um dort ein Versteck zu finden. Dabei hackte er sogar noch nach Harrys Füßen.
Der war es leid.
Er zog seine Waffe. Allerdings nicht, um den Vogel zu erschießen, er wollte ihn praktisch bewusstlos schlagen und nur im Notfall töten. Das Tier musste untersucht werden.
Die Pistole traf den Kopf!
Ein krächzender Schrei löste sich aus dem offenen Schnabelmund, dann war das Tier nicht mehr in der Lage, auch nur ein Stück Flügel zu bewegen.
Leblos blieb es liegen.
Harry war froh, es geschafft zu haben. Wenig später jedoch weiteten sich seine Augen, denn da sah er etwas, das seinen Atem stocken ließ.
Er würde den Raben nicht mehr zu einer Untersuchung bringen können, denn das Tier löste sich vor seinen Augen auf. Zurück blieb nichts als Asche…
***
Harry Stahl wusste nicht, was er denken sollte. Es verging bestimmt mehr als eine halbe Minute, in der er nur auf der Stelle stand und sich nicht bewegte. Was er hier erlebt hatte und jetzt auch noch sah, das passte nicht in das normale Weltbild, ebenso wenig wie die Botschaft. Er sah sich jetzt mit einem Fall konfrontiert, der größere Ausmaße angenommen hatte, und das traf ihn schon wie ein Hammerschlag in den Magen.
Asche und ein paar dünne Knochen.
Auch ein Stück Schnabel. Das war alles, was von diesem Tier noch übrig geblieben war. Kaum zu glauben. Aber Harry wusste jetzt, dass er jetzt auf einer anderen Ebene weiterdenken musste.
Er richtete sich auf und öffnete die Wagentür. Im Handschuhfach befand sich eine Plastiktüte.
Einen Teil der Asche schaufelte er in die Tüte und knotete sie zu.
Danach stieg er in seinen Insignia, schnallte sich an, und jetzt, wo die Spannung etwas nachgelassen hatte, spürte er auch die kleine Wunde auf seinem Kopf.
Es war ihm egal.
Bevor er startete, dachte er noch mal über seinen Besuch bei Paula Norton nach.
Was immer er geschafft oder auch nicht geschafft hatte, dieser Besuch hatte sich gelohnt. Er hatte etwas in Bewegung gebracht, und das konnte sich zu einer Kettenreaktion ausweiten.
Auf dem Weg nach Wiesbaden musste er an die Geschehnisse denken.
Er wusste nicht, wie lange seine Partnerin wegbleiben würde. Jedenfalls wollte er mit ihr über die Vorgänge reden, denn Dagmars Meinung war ihm sehr wichtig. Sie bildeten ein Team, nicht nur privat, auch beruflich.
Die Strecke kam ihm heute lang vor, und sie wurde noch länger, als er vor sich einen Stau auf der Landstraße sah. Es lag an Bauarbeiten,
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