1622 - Sie kamen aus der Totenwelt
überlege, könnte dieser Mensch zwei Leben geführt haben.«
Sir James drehte ihr sein Profil zu. »Welche meinen Sie denn da, Glenda?«
»Das eine hier als Verkäufer und das zweite Leben in der Schweiz, in Pontresina. Er ist immer dorthin gefahren und wird da auch seine Spuren hinterlassen haben. Ich kann ja mal recherchieren. Vielleicht finde ich den Namen des Hotels, in dem er abgestiegen ist. Wir müssen jede noch so geringe Chance nutzen.«
Suko und ich schauten uns an. Beide nickten wir.
Sir James meinte: »Ich denke, dass wir da nur den Vater zu fragen brauchen.« Er stand auf. »Das werde ich übernehmen. Ich gebe Ihnen dann Bescheid.« Er wandte sich an Suko und mich. »Sie sollten sich mal seine Wohnung vornehmen. Der Schlüssel wurde bei der Leiche gefunden, und ich habe ihn an mich genommen.«
Er übergab ihn Suko, weil der sich schon von seinem Platz erhoben hatte. Danach verschwand unser Chef, und Glenda rollte auch ihren Stuhl zurück an ihren Schreibtisch. Um das Büro zu verlassen, musste ich sie passieren. Glenda hielt mich mit einer Armbewegung auf.
»Was sagt denn dein Bauchgefühl, John?«
Ich verzog die Lippen. »Nichts. Es meldet sich nicht. Das ist ja die Tragik.«
»Aber meines.«
»Aha.«
Glenda runzelte die Stirn. »Ich habe genau zugehört und bin überzeugt, dass man die Lösung des Rätsels in der Schweiz finden kann. Ja, er kann zwei Leben geführt haben, John. Hier ist er unauffällig gewesen, aber in der Schweiz war er vielleicht zu großen Leistungen fähig. Ein Bergsteiger. Vielleicht auch ein extremer. Vielleicht kennt man ihn dort.«
Ich war zwar skeptisch, aber wir hatten im Laufe unserer Jahre schon einiges erlebt, für das der Begriff Überraschung nicht groß genug gewesen war.
»Zuerst schauen wir uns mal die Wohnung an. Hast du vielleicht die Anschrift?«
»Ja, die habe ich. Was denn sonst?«
»Du bist eben perfekt, Glenda.«
»Wenn du das sagst, glaube ich dir das fast…«
***
Der schwarze Vogel saß auf der Kühlerhaube und bewegte sich nicht.
Der leichte Wind strich über seinen Körper hinweg und ließ das Federkleid zittern.
Obwohl schon einige Sekunden verstrichen waren, hatte sich Harry Stahl noch nicht von dem Anblick erholt. Dass er mal eine derartige Kühlerfigur bekommen würde, damit hatte er nicht gerechnet, und er sah auch keinen Grund für diesen Besuch. Es sei denn, dem Raben hätte sein Besuch bei Paula Norton nicht gefallen. Dann sah die Sache schon anders aus. Aber darüber machte er sich keine Gedanken, denn jetzt musste er sich um den Vogel kümmern, der ihn mit seinen kalten Augen anstarrte, als wollte er auf den Grund seiner Seele blicken.
War das der Vogel, der Paula Norton die Nachricht des verstorbenen Sohnes gebracht hatte?
Das konnte durchaus sein. Harry ging davon aus, dass er es nicht mit einem wilden Vogel zu tun hatte. Mehr mit einer Kreatur, die gezähmt worden war.
Okay, das nahm er hin. Aber was wollte der Vogel von ihm? Warum stand er auf der Motorhaube?
Harry glaubte nicht daran, dass der Rabe sprechen konnte. Also musste er auf eine andere Weise mit ihm kommunizieren, und das war nicht möglich, wenn sie durch eine Scheibe getrennt waren.
Also aussteigen und das Tier zwingen, seine Starre aufzugeben.
Harry hatte sich noch nicht angeschnallt. Er konnte die Tür öffnen und den Opel verlassen.
Nur nichts überstürzen. Er ging dabei sehr behutsam vor. Er wollte nicht, dass sich der Rabe erschreckte und wegflog.
Doch das hatte der Rabe nicht vor. Er ließ Harry aussteigen, ohne etwas gegen ihn zu unternehmen.
Harry Stahl blieb neben der Tür stehen und schaute sich kürz um. Da der Eingang des Hauses zur Rückseite hin und nicht an der Straße lag, war es in der Umgebung ruhig. Er brauchte nicht zu befürchten, dass er von fremden Augen beobachtet wurde. Hinter ihm standen Garagen dicht an dicht, und dahinter erhoben sich die Hänge der Weinberge.
Der Rabe wartete auf ihn. Es war daran zu erkennen, dass er sich umgedreht hatte. Erneut starrte Harry Stahl in ein bewegungsloses Augenpaar, das ihm nicht mehr neutral vorkam, sondern böse.
Er ging auf die linke Hälfte der Kühlerhaube zu und näherte sich dem Tier. Er dachte sogar daran, dass es eine Botschaft für ihn brachte, auch wenn in seinem Schnabel kein Zettel steckte.
In den folgenden Sekunden geschah nichts. Beide schauten sich an, als wollten sie ihre Kräfte messen. Bis der Vogel seinen Schnabel öffnete und einen leisen Krächzlaut abgab. Warum er
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