166 - Sohn dreier Welten
Beginn der Herbststürme blieben die tuurkischen Jagdkommandos zu Hause. Bei schlechtem Wetter war die Überfahrt zur Insel schwierig, und da im Winter ohnehin keine Kunden kamen, wären weitere Sklaven nur unnütze Fresser.
Die konnte man nicht brauchen auf Dschennem Kapü.
Daa'tan sank das Herz, als Narmer ihm von der Insel erzählte, die man zu früherer Zeit Cypern genannt hatte.
Seebeben, Vulkanausbrüche und Tsunamis hatten das ehemals blühende Eiland in nackten Stein verwandelt. Von dort aus belieferten die Tuurks fast alle Mittelmeerstaaten mit Sklaven.
Die Leute wurden schlecht verpflegt und noch schlechter behandelt: Aufseher mit Peitschen brachen jeden Widerstand.
Ein Wall aus Klippen, Strudeln und tückischen Untiefen umringte die Insel. Es gab nur eine einzige sichere Passage und einen einzigen Hafen. Der war schwer bewacht. Eine Flucht war unmöglich.
»Wie bist du den Tuurks entkommen?«, fragte Daa'tan.
Narmer hob die Schultern. »Gar nicht! Sie haben mich verkauft. Dann bin ich entkommen.« Er stieß Daa'tan aufmunternd an. »Weißt du was? Das nächste Mal fliehen wir zusammen! Ich nehme dich mit nach Eogypt, da ist es warm und schön. Es wird dir gefallen!«
Narmer lehnte sich an die kalte Wand. Regen tropfte ihm aus dem Haar, und der Wind füllte seine entzündeten Augen mit Tränen. Der Junge schilderte das Land am Niil in so glühenden Farben, dass sich Daa'tan von seiner Begeisterung anstecken ließ. Besonders verlockend erschien ihm die Verbotene Stadt El Mo'andes. Sie war der Sündenpfuhl des Vorderen Orients schlechthin und warb damit, jeden Wunsch erfüllen zu können und alles Käufliche auf Lager zu haben.
»Also, was meinst du?«, fragte Narmer und streckte seine Hand aus.
Daa'tan ergriff sie. »Abgemacht!«, sagte er.
Am Hofeingang – einem Fallgitter mit Eisenspitzen – wurde es laut. Tuurks schleppten dampfende Kübel heran, und sofort setzten sich die Gefangenen in Bewegung.
Narmer sprang auf.
»Bleib hier!«, befahl er Daa'tan. »Ich bringe dir dein Essen mit. Am Tor wird es ziemlich eng, da kann leicht was passieren! Du weißt ja, dass die Madaaren dich hassen. Also gib mir deinen Napf!«
Daa'tan dachte an die Prügel, die er schon bezogen hatte, und gehorchte. Kleinmütig schlang er seine Arme um die Knie und blickte Narmer hinterher. Der ägyptische Junge hatte Beziehungen im Lager, er war geschickt, sprach Tuurkisch und konnte gut handeln. Narmer war ein Überlebenskünstler – und ein verlässlicher Beschützer.
Daa'tan seufzte. Er hatte einmal geglaubt, er könnte Primärrassenvertreter mit der Macht seiner Gedanken nach Belieben beherrschen. Dann war er an den Anführer der Tuurks geraten – und schmählich gescheitert. Seitdem hatte er es nie wieder versucht.
Nur seine täglichen Meldungen an Grao'sil'aana hatte er fortgesetzt. Es kam zwar nie eine Antwort, aber Daa'tan klammerte sich an die Hoffnung, dass der Daa'mure ihn hören konnte. Jeden Abend bei Sonnenuntergang schilderte der Junge präzise, wo er war und was sich tagsüber zugetragen hatte.
Diese Routine half ihm zu überleben. Sie war ein Trost in einer feindlichen Welt.
Daa'tans Blick folgte Narmer, so lange es ging. Die Tuurks hatten begonnen, das Fallgitter hochzuziehen, und ihre hungrigen Gefangenen strömten zusammen. Das Essen reichte nie für alle und man musste sich beeilen, wenn man etwas ergattern wollte. Da blieb keine Zeit für Unterhaltungen. Schon gar nicht konnte man es sich erlauben, stehen zu bleiben. Aber genau das taten ein paar Madaaren. Sie sahen zu Daa'tan herüber, und sie tuschelten miteinander.
Der Junge runzelte die Stirn. Etwas war falsch an diesem Bild! Wenn die Männer ihn angreifen wollten, hätten sie einfach herkommen können. Er saß schutzlos und allein in seiner Ecke. Doch sie rührten sich nicht vom Fleck. Warum nicht? Daa'tan bemerkte, dass sie keine Näpfe in der Hand hatten. Also würde jemand anderer das Essen für sie holen.
Wie Narmer für ihn.
Daa'tan ruckte hoch. Der Junge war nirgends zu sehen. Dort, wo er sich eben noch durch die Menge gezwängt hatte, standen jetzt Madaaren, Schulter an Schulter. Wie ein Sichtschutz. Und plötzlich roch es nach Gefahr.
»Narmer!«, schrie Daa'tan und rannte los. Er konnte es spüren – er wusste es irgendwie: Innerhalb der lärmenden Menge war ein kleiner Pulk, der etwas anderes ausstrahlte als die Hoffnung auf Essen. Daa'tan stürmte über den Hof. Der Wind trieb ihm Tränen in die Augen. Er blinzelte sie
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