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gleichermaßen.
Dann fragte André seinen Sohn nach allem, was inzwischen in der Familie geschehen war. Als Gabriel berichtete, wie er nach Paris geflohen war, um sich der Autorität seines Onkels zu entziehen und sich Molière anzuschließen, musste der alte Mann lächeln. Er war glücklich, als er den verwegenen Charakter seines Sprösslings entdeckte.
Gabriel erzählte seinem Vater in allen Einzelheiten, wie die ungeheure Entdeckung der Mappe ihn über eine merkwürdige Verkettung von Umständen bis hierher geführt hatte. Als er Nicolas Fouquet und François d’Orbay erwähnte, lächelte André de Pontbriand einmal mehr. Gabriel erkundigte sich mehrfach nach dem Geheimnis und nach der mysteriösen Bruderschaft mit den vierzehn Mitgliedern, die seine Neugierde geweckt hatte. Die mehr oder weniger sibyllinischen Antworten seines Vaters enttäuschten ihn tief.
»Quäle mich nicht so, mein Sohn«, sagte André nach einer Weile lachend. »Die Regeln unserer Bruderschaft und den Inhalt des Textes, den wir bewahren, dürfen nur Eingeweihte kennen. Du setzt dich großer Gefahr aus, und du weißt jetzt schon zu viel darüber. Barrême, der ein treuer Freund ist, hat mir von den Unterlagen erzählt, die du ihm gezeigt hast.« Er durchbohrte den jungen Mann mit seinem stählernen Blick. »Was hast du damit gemacht?«
»Ich habe sie hier in London, in meinem Koffer«, antwortete Gabriel.
»Meine Kutsche steht zu deiner Verfügung. Hol sie und komm zurück, dann speisen wir zusammen. Wir haben uns noch so vieles zu erzählen.«
Überaus glücklich über diesen Vorschlag, erhob sich Gabriel, um auf der Stelle aufzubrechen. Er war ungeduldig, das Geheimnis der ganzen Geschichte zu lüften.
»Komm schnell zurück«, konnte der alte Mann nicht umhin, ihm mit auf den Weg zu geben. »Und pass gut auf dich auf.«
London, Wohnsitz von André de Pontbriand
Freitag, 22. April, neun Uhr abends
Gabriel fand seinen Vater in seinem Studierzimmer in der oberen Etage noch bei der Arbeit. Er sah müde aus.
»Zum Glück bist du schnell zurückgekommen, mein Sohn«, sagte André de Pontbriand erfreut.
»Hier«, antwortete Gabriel und reichte ihm die granatfarbene Ledermappe mit den besagten Papieren. »Die habe ich im Theater unten im Souffleurkasten gefunden.«
»Sehen wir uns das einmal an«, meinte André und hielt sich seinen Kneifer vors Auge. »Setz dich, mein Sohn, es wird sicher eine Weile dauern.«
André de Pontbriand untersuchte minutiös die Schriftstücke. Die Blätter, die er gelesen hatte, ordnete er in mehreren Stapeln auf dem großen Mahagonitisch, der ihm als Schreibtisch diente. Gabriel sah seinem Vater zu und musterte ihn eingehend, um ihn für sich wiederzuentdecken. Nach und nach fand er in seinem Gesicht und in seiner Mimik vertraute Züge, die ihm verschwommene Bilder aus seiner Kindheit in Erinnerung riefen.
»Geschafft«, sagte der alte Mann schließlich und rieb sich die Augen. »Wie du siehst, habe ich die Papiere geordnet. Dies hier«, sagte er mit bewegter Stimme und deutete auf ein einzelnes Dokument, »ist das Schriftstück, das Naüm an Mazarin verkauft hat. Auf der Rückseite steht das chiffriertePasswort und darunter meine Unterschrift, die du wiedererkannt hast.«
André de Pontbriand strich mit zitternder Hand über das Schriftstück. Gabriel schwieg und verfolgte erschüttert, wie sein Vater gegen die Gefühle ankämpfte, die ihn zu überwältigen drohten.
»Wenn du wüsstest, was dieses Stück Papier für mich bedeutet«, sagte der alte Mann mit kaum hörbarer Stimme und ließ das Blatt langsam durch seine Finger gleiten. »Und nicht nur für mich, sondern für die Zukunft der ganzen Welt! Und du bist es, der es mir zurückgebracht hat …«
Mit einem Ruck riss er sich von seinen Erinnerungen los und gebot Gabriel Einhalt, der gerade eine Frage stellen wollte. Dann wandte er sich den restlichen Papieren zu.
»Hierbei«, fuhr er fort und zeigte auf einen Stapel von Dokumenten, »handelt es sich um eine sehr viel einfachere Verschlüsselung, die italienischer Code genannt wird. Allen Vertrauten des Hofes ist er seit Jahren leicht zugänglich und nicht mehr in Gebrauch, seit er während der Fronde entschlüsselt wurde. Es ist allseits bekannt, dass Anna von Österreich diesen Code für ihre geheime Korrespondenz benutzt hat. Nach der ersten Durchsicht glaube ich, dass wir es hier mit offiziellen Papieren zu tun haben. Es wird nicht lange dauern, bis ich herausgefunden habe, worum es
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