1661
beruhigt. Er merkte in diesem Moment, wie sehr der väterliche Schutz ihm gefehlt hatte.
»Es ist schon spät, Vater«, sagte der junge Mann mit einem Blick auf die Standuhr. Es war nicht mehr lange bis Mitternacht.
»Und du musst Hunger haben! Ich jedenfalls könnte einen ganzen Bären verspeisen«, meinte André und führte Gabriel in einen Raum im Erdgeschoss, wo sie ein kaltes Mahl erwartete.
»Ich freue mich über das, was Ihr vorhin gesagt habt«, begann der junge Schauspieler, während er sich über ein großes Stück Hammelkeule hermachte. »Ich werde dafür beten, dass die Rückgabe der kompromittierenden Papiere es Euch ermöglicht, bald nach Amboise zurückzukehren«, fuhr der junge Mann fort.
Als er GabrielsWorte vernahm, konnte André de Pontbriand seine Tränen nicht länger zurückhalten.
»Das ist mein sehnlichster Wunsch«, sagte er. »Du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr das Glück, dich wiederzusehen, mich verwandelt hat. Heute Abend spüre ich kaum noch die Schmerzen, die mich doch schon seit Monaten plagen. Als ob deine Jugend ihre Kraft auf mich übertragen hätte!«
Sie unterhielten sich noch lange. Beide waren begierig, einander besser kennenzulernen und die verlorenen Jahre aufzuholen. Wieder und wieder versuchte Gabriel, seinem Vater etwas über das so kostbare Manuskript zu entlocken, dem mehrere Generationen der Pontbriands ihr Leben geweiht hatten. Mit einem Mal schien Gabriel tief in Gedanken versunken zu sein.
»Worüber sinnst du nach?«, erkundigte sich sein Vater, nachdem sie eine Weile geschwiegen hatten.
»Denkt Ihr nicht daran, mich in die Reihe der Vorväter aufzunehmen? Wenn das Geheimnis so wichtig ist, warum wollt Ihr dann nicht, dass auch ich einer seiner Wächter werde?«
»Glaube mir, mein Sohn«, erwiderte André. »Wenn ich dir heute Abend nicht mehr über unser Familiengeheimnis erzähle, so ist es allein, um dich zu schützen. Hab Geduld!«
Als ihm Gabriels düsterer Blick begegnete, beugte sich der alte Mann zu ihm und sah ihm in die Augen.
»Willst du, dass ich dir die Wahrheit sage? Jahrelang habe ich gehofft, dass die Verbindung abreißen würde. Jahrelang habe ich in der Abgeschiedenheit gelebt, meine Wunden geleckt, mein Schicksal gehasst und gehofft, ohne daran zu glauben, du mögest ihm entgehen. Ich habe gehofft, dass meine Generation unsere Suche vollenden würde und du davon befreit wärest … Deswegen war ich so erschüttert, als ich erfuhr, dass du die Papiere gefunden hattest …«, fügte er in einem plötzlich müden Tonfall hinzu, riss sich dann aber wieder zusammen. »Nun gut. Du willst, dass ich dir beweise, was ich dir erzählt habe. Nun gut, ich werde dir ein Geheimnis enthüllen, das mehr wert ist als Gold. Spitze deine Ohren, Gabriel, denn was du hören wirst, haben nur sehr wenige Menschen vernommen. Ich werde dir die Übersetzung des Schlüsseltextes vorlesen, der so lange verloren war und den du wiedergefunden hast. So wirst du zu einem der Unseren.«
Er stieg hinauf in sein Studierzimmer und kehrte kurze Zeit später mit dem Dokument zurück.
Mit der größten Verwunderung hörte Gabriel danach etwas, was ihm wie eine lange Folge von Pflanzennamen und ärztlichen Dosierungen erschien.
André de Pontbriand lächelte, als er geendet hatte. Danach sprach er noch eine geraume Weile mit seinem Sohn, bis er sich um zwei Uhr morgens entschloss, schlafen zu gehen. Er schlug Gabriel vor, die Nacht bei ihm zu verbringen.
»Du kannst im Sessel in meinem Studierzimmer schlafen«, erklärte sein Vater, »dann können wir morgen früh die anderen Papiere entschlüsseln.«
Beglückt wünschte der junge Mann seinem Vater eine gute Nacht und stieg nach oben, um es sich im Studierzimmer bequem zu machen. Doch Gabriel tat lange Zeit kein Auge zu, ihm gingen die merkwürdigen Sätze im Kopf herum, die sein Vater ihm vorgelesen hatte. So war es sehr spät, als er schließlich in einen unruhigen Schlaf fiel.
London
Samstag, 23. April, vier Uhr morgens
Das Gepolter umgeworfener Möbel riss Gabriel jäh aus seinen Träumen. Er begriff nicht sofort, was los war.
»Zu Hilfe!«
Die erstickte Stimme seines Vaters ließ den jungen Mann nicht länger zögern. Er schnappte sich seinen Degen, den er wenige Stunden zuvor am Fuße des Sessels abgelegt hatte, in dem er eingeschlafen war. Mit einem Satz war Gabriel im Flur. Die Dunkelheit zwang ihn, sich in dem Haus, das er nicht kannte, langsam vorwärtszutasten. Als er bis zum Schlafzimmer
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