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1661

1661

Titel: 1661 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Denis Lépée
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es her, seit ich ihn zum letzten Mal gesehen habe! Wie mag er aussehen? Wie wird er reagieren? Was denkt er von mir? Wie soll ich ihm erklären, dass ich mich fünfzehn Jahre lang nicht um ihn gekümmert habe?, fragte er sich wieder und wieder. Im Laufe der Jahre hatte sich André de Pontbriand schon fast damit abgefunden, dass er niemanden aus seiner Familie je wiedersehen würde.
    Das Haus von Charles Saint John lag in einem einfachen Viertel und ging über zwei Etagen. Im Erdgeschoss stapelten sich Waren verschiedenster Seehandelsgesellschaften, mit denen der im Exil Lebende Geschäfte machte. Zwei Gehilfen waren für den Warenumschlag und die Warenkontrolle zuständig. Der Handel war für den alten Mann ein idealer Deckmantel und erlaubte ihm, sehr oft zu reisen, ohne den geringstenVerdacht zu erwecken. Außerdem war er seine einzige Einnahmequelle. Im Obergeschoss befanden sich seine Wohnräume, einfach und bequem. Neben seinem Schlafraum hatte er ein Studierzimmer einrichten lassen, das ihm auch als Bibliothek diente. Im Laufe der fünfzehn Jahre hatte er eine beachtliche Sammlung zusammengebracht, die hauptsächlich aus Werken der Poesie bestand. Er hatte sich auch selbst an der Dichtkunst versucht und bewahrte mehrere Manuskripte auf, doch hatte er nie gewagt, sie zu veröffentlichen.
    Als er zum wiederholten Mal ans Fenster trat, sah er, dass vor seinem Haus eine Kutsche hielt. Der Kutscher sprang herab, um die drei Stufen auszuklappen, die den Fahrgästen das Aussteigen erleichterten, dann wies er mit einer Handbewegung auf das Haus des Kaufmanns. Das Herz des alten Mannes schlug noch heftiger. Barrême stieg als Erster aus der Kutsche, umgehend gefolgt von Gabriel. Der Mann hinter dem Fenster, der mit solcher Ungeduld gewartet hatte, reagierte nicht gleich. Er war wie betäubt, als er den Jungen erblickte, der nicht mehr der kleine Cherubino seiner Erinnerung war. Er schämte sich seines Zögerns, fühlte, wie der Schweiß auf seiner Stirn perlte, und sprach leise seinen Namen aus.
    »Gabriel   … Mein Junge!«
     
    »Wohin führt Ihr mich eigentlich?«, fragte Gabriel und hielt den beleibten Mann zurück, der zu dem bescheidenen Handelshaus aufblickte und sich anschickte, einzutreten.
    »Ihr seid fast am Ziel. Bringt also noch ein wenig Geduld auf«, antwortete der Rechenmeister, öffnete die unverschlossene Tür und stieß ihn ins Haus. Offensichtlich befanden sie sich in einem Empfangsraum für Kunden. »Man erwartet Euch«, sagte er und deutete auf die Treppe.
    Gabriel stieg allein hinauf. Als er am Treppenabsatz deroberen Etage stand, war er auf der Hut. Vorsichtig näherte sich der halb geöffneten Tür.
    »Kommt herein!«
    Der junge Schauspieler, dessen Verblüffung wuchs, folgte der Aufforderung und trat in das Studierzimmer. Sein Blick fiel auf einen Mann mit weißem Haar, der ihm den Rücken zugewandt hatte und völlig reglos dastand. Langsam wandte sich der Mann um und blickte seinem Besucher ins Gesicht. Gabriel fielen als Erstes die strahlend blauen Augen auf. Dem jungen Mann war die Situation unangenehm, und er fühlte sich bemüßigt, etwas zu sagen.
    »Monsieur   …«
    »Wie glücklich bin ich, dich zu sehen! Ich hätte nicht gedacht, dass mir dieser Augenblick im Leben noch vergönnt sein würde«, unterbrach ihn der alte Mann und ging langsam auf Gabriel zu, so wie man es bei einem Vogel tut, wenn man verhindern will, dass er davonfliegt.
    Je näher das Gesicht ihm kam, desto deutlicher fühlte Gabriel eine ungeheure Erregung in sich aufsteigen. Diese Stimme, sagte er sich, als er sein Gegenüber genauer ansah. Und nun dieser Blick, dieses Gesicht   … Er trat einen Schritt zurück.
    »Wer seid Ihr?«, fragte er mit kaum hörbarer Stimme.
    Ohne zu antworten, kam der Mann noch näher. Mit einer ungeschickten Geste berührte er Gabriels Schulter. Der junge Mann spürte das Zittern der Finger.
    »Wie groß du geworden bist«, sagte der Mann sanft.
    Gabriel sah, wie seine Augen sich mit Tränen füllten.
    »Ihr seid doch nicht   …«, stammelte der junge Mann.
    Plötzlich begriff er, im selben Moment, da der falsche Charles Saint John ihn in seine Arme schloss.
    »Mein Kind, mein liebes Kind, endlich habe ich dich wieder«, murmelte André de Pontbriand mit bewegter Stimme, während er seinen Sohn fest umarmt hielt.
    Eine Flut von Bildern brach über Gabriel herein, und er war in diesem Moment außerstande, seinem Vater zu antworten, zu groß waren seine Rührung und seine

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