1661
sollte.«
»Ich?«
»Ja«, fuhr d’Orbay lächelnd fort. »Er hat dich für würdig erachtet, deinen Vorvätern nachzufolgen. Ich muss dir nun eine wichtige Frage stellen, Gabriel. Bist du dazu bereit, das Fünfte Evangelium zu bewahren? Bist du stark genug, dieser Sache dein Leben zu widmen und, wie es dein Vater getan hat, notfalls auch dein Leben dafür zu opfern? Bist du bereit, von heute auf morgen deine Identität, dein Leben zu ändern, wenn es sein muss, dein Land und deine Freunde zu verlassen, ohne Hoffnung auf Wiederkehr? Überlege es dir gut«, fragte er in feierlichem Ton.
»Ja, das bin ich. Ich nehme an!«, antwortete der junge Mann nach einer Weile. »Doch was muss ich tun?«
D’Orbay seufzte tief auf und nahm aus seinem Rock einen Umschlag, den er Gabriel überreichte.
»Hierin findest du alles, was du von der Bruderschaft und ihren Regeln wissen musst. Lerne alles auswendig und vernichte diese Abschrift.«
Gabriel nahm den Umschlag fest in die Hand.
»Nun muss ich dir den Willen unseres Gefährten anvertrauen. Du wirst von hier fortgehen, Gabriel, sehr weit fort, und das schnellstens.«
»Weit von hier?«
»Ja, sehr weit sogar«, bestätigte der Architekt. »Du wirst in die Neue Welt reisen.«
Gabriel riss überrascht die Augen auf.
»Ja, du hast richtig gehört«, fuhr d’Orbay fort, »du gehst nach Amerika! Ich war beauftragt, dir im Falle deiner Zusage diesen Brief auszuhändigen, aber vor allem auch dann, wenn ich zu der Einschätzung käme, das Geheimnis des HeiligenPetrus wäre hier nicht länger sicher. Fouquets Verhaftung und die Gefahren, denen du und ich hier ausgesetzt sind, zwingen mich, dich dringend zu bitten, darauf einzugehen. Ich hätte mir nicht vorstellen können, dass die Ereignisse sich derart überschlagen würden, doch du musst unser Geheimnis schützen. Ludwig XIV. weiß, dass es existiert. Er könnte versucht sein, sich seiner zu bemächtigen und es zu vernichten. Verstehst du nun, warum ich es so eilig damit habe, dass du von hier verschwindest?«
»Ich bin bereit!«, antwortete Gabriel bloß.
»Sehr gut. Sei unbesorgt«, setzte d’Orbay hinzu. »Ich habe einen Boten nach Nantes geschickt. Man erwartet dich Samstag im Hafen, du schiffst dich nach Amerika ein. Bei deiner Ankunft in New Amsterdam wird dich jemand in Empfang nehmen. Was das Geld angeht, daran wird es dir niemals mangeln«, meinte d’Orbay geheimnisvoll.
Ein Schatten glitt über Gabriels Gesicht.
»Aber ich kann nicht so schnell abreisen. Mein Vater ist noch nicht gerächt. Colbert hat nicht dafür bezahlt. Ich habe meine Rache verschoben, aber …«
»Ich kümmere mich darum«, fiel d’Orbay ihm ins Wort. »Zu dieser Stunde ist schon alles vorbereitet. Keine Angst, die Bestrafung ist bereits eingeleitet. Deine Pflicht liegt nun woanders«, schloss er mit sanfterer Stimme.
Von Rührung übermannt, schloss François d’Orbay den jungen Mann in seine Arme.
Gabriel überkam plötzlich die Vorahnung, dass er ihn wahrscheinlich nie wiedersehen würde.
»Warum kommt Ihr nicht mit mir?«, fragte der junge Mann.
Der Architekt lächelte traurig.
»Meine Zeit im Dienst unseres Geheimnisses geht zu Ende. Du wirst in Amerika Gefährten finden, die so jung sind wie du. So bestimmen es im Übrigen auch die Gesetze unsererBruderschaft. Du wirst es begreifen, wenn du die Papiere liest, die ich dir gegeben habe.«
Ohne noch mehr Zeit zu verlieren, zog der Architekt den jungen Mann mit sich, um den Kodex zu holen, der in der Schlosskuppel verborgen war.
»Hier«, sagte er zu ihm, als er ihm die kostbare Last übergab. »In dieser Schatulle findest du auch einen erklärenden Brief von Fouquet. Ich bitte dich, lies ihn erst auf dem Schiff und vernichte ihn anschließend. Dann weißt du alles über das Geheimnis des Fünften Evangeliums!«
Während die Diener den Koffer des jungen Mannes aufluden, verabschiedete d’Orbay sich von Gabriel.
»Sei vorsichtig, mein Junge. Du bist ab heute Abend ein Glied einer gewaltigen Kette, und die darf nicht reißen! Geh nun«, schloss er mit feuchten Augen, »und glaube mir, dein Vater wäre stolz auf dich!«
Als die Kutsche in vollem Tempo das schmiedeeiserne Gitter von Vaux-le-Vicomte passierte, hatte Gabriel nur einen Gedanken: Louise nach Amerika mitzunehmen!
Vaux-le-Vicomte
Mittwoch, 7. September, elf Uhr abends
François d’Orbay betrachtete die Decke des großen Vestibüls und die geheime Steinplatte entlang des Gesimses, die im Medaillon mit dem
Weitere Kostenlose Bücher