1661
Ich will lachen, mich amüsieren, die Feste und Bälle genießen, den Rausch des Theaters kennenlernen, mich in den Salons mitreißen lassen, die berühmtesten Gelehrten treffen und vor den größten Kunstwerken erblassen. Ich möchte die Mächtigen verführen und auch ein wenig von den köstlichen Freuden der Macht kosten. Ihr begreift nicht, dass mein Leben
hier
ist! Ich habe nämlich Amboise nicht den Rücken gekehrt, um noch einmal alles genau in dem Augenblick aufzugeben, da sich mein Traum erfüllt! Gabriel, ich …«
Ungläubig sah Gabriel den strahlenden Glanz in ihren Augen.
»Sagt nichts mehr«, unterbrach er sie leise und strich der jungen Frau über die Locken. »Antwortet nicht. Nicht heuteAbend. Morgen steht ab drei Uhr ein Wagen an der Porte Saint-Martin. Ich warte bis um vier …«
Gabriels trauriger, gleichzeitig aber entschlossener Blick traf Louise mitten ins Herz und beschwor die Zuneigung wieder herauf, die sie seit so langer Zeit für ihn empfunden hatte – eine Zuneigung, die sie immer brüderliche Verbundenheit genannt hatte, als wollte sie deren wahre Natur verbergen. Sie näherte sich Gabriel, drückte ihre schmalen Lippen auf die des jungen Mannes und spürte seinen heißen Atem. Er schlang die Arme um sie, küsste sie leidenschaftlich und fasste sie so ungestüm um ihre schmale Taille, dass sie ihm nur einen Augenblick widerstand.
Das fahle Mondlicht fiel auf den schlafenden Gabriel. Das Geräusch von Schritten auf dem Parkett weckte ihn jäh.
»Louise …«, sagte er mit schläfriger Stimme.
An der Türschwelle drehte sich die junge Frau um und legte einen Finger auf die Lippen, bevor sie hinausging.
»Wir sehen uns wieder, Gabriel de Pontbriand«, flüsterte sie, als sie die Treppe hinabstieg.
Wohnsitz von Jean-Baptiste Colbert
Montag, 12. September, fünf Uhr morgens
Colbert erwachte mit einem Ruck, seine Hände zitterten, und kalter Schweiß lief ihm unter seinem Nachthemd über die Brust. Ihm wurde bewusst, dass er geschrien hatte. Er schleuderte seine Decke zurück und warf einen misstrauischen Blick in die ihn umgebende Finsternis. In der vollkommenen Stille bekreuzigte er sich hastig, wobei er ein paar unhörbare Worte murmelte, schwang seine Beine aus dem Bett und tastete nach seinen Pantoffeln. Als er den Bettvorhang zur Seite geschoben hatte, warf er einen Blick auf die vergoldete Pendeluhr, die er vom Kardinal geerbt hatte.
»Was für eine Verrücktheit«, sagte er mit lauter Stimme, um sich selbst zu beruhigen. »Es ist nur ein Albtraum!«
Er zögerte einen Augenblick, sich wieder hinzulegen. Er war überzeugt, dass dies das Vernünftigste wäre, konnte sich aber nicht dazu entschließen.
»Tantalus«, murmelte er verwirrt.
Der Albtraum kehrte zu ihm zurück, er sah sich wieder gefesselt, verzehrt von Durst und Hunger, es war ihm unmöglich, an etwas Essbares zu kommen, die Früchte zu pflücken, die direkt über seinem Kopf hingen …
In der Ecke des Raums, zwischen Dutzenden von Schachteln und Kisten, bei denen es sich um Geschenke handelte oder um Gegenstände, die aus Fouquets Wohnsitzen geraubtund auf direktem Wege in Colberts Domizil gebracht worden waren, lehnte ein eingewickeltes Päckchen an der Wand, das offensichtlich schon einmal geöffnet worden war. Colbert ergriff es aufgeregt, zerriss die Verpackung und starrte auf das Bild: Auf der Leinwand in dem vergoldeten Rahmen waren die Qualen des Tantalus abgebildet.
»Die Pest über das Bild!«, fluchte er und warf die Leinwand zu Boden.
Seit er das Päckchen wenige Tage zuvor zufällig geöffnet hatte, in der sicheren Erwartung, darin eine weitere Huldigung zu finden, die seinem Stolz schmeichelte, hatte er das Bild nicht mehr aus seinem Kopf verbannen können. Es hatte ihm den Albtraum eingebracht, in dem er selbst den Qualen ausgesetzt war. Plötzlich beschlich ihn ein furchtbarer Gedanke. Wäre das möglich?, dachte er mit Schrecken. Er hielt es nicht länger aus, ergriff seine Hausjacke, die auf einer Sitzbank lag, zog sie eilends über, bedeckte seinen kahlen Schädel mit einer kleinen Filzkappe und öffnete die Tür des Schlafgemachs. Im Flur war es noch dunkler. Colbert stieß an eine Säule und hätte fast die Vase umgeworfen, die darauf stand. Er blieb eine Sekunde stehen, bis sein Herzschlag sich wieder beruhigt hatte.
»Also los«, sagte er und bewegte sich in Richtung der Treppe, die zu seinem Arbeitszimmer führte. Er musste sich Gewissheit verschaffen.
In dem
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