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1661

1661

Titel: 1661 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Denis Lépée
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Beim Anblick des zweiten Bildes erbleichte der frühere Sekretär Mazarins: Ein Mann auf seinem Totenbett war darauf zu sehen. Vor ihm betete eine Familie, und in der ersten Reihe konnte man ohne Schwierigkeiten einen in Tränen aufgelösten Sohn erkennen.
    Verstört stellte Colbert das Bild wieder an die Wand. Dabei fiel ihm auf, dass auf der Rückseite des Gemäldes eine Karte klebte, die zusammen mit den beiden Bildern verschickt worden war.
    Mit zitternden Händen näherte er sich dem Licht: »›Selig, die keine Gewalt anwenden, denn sie werden das Land erben‹«, las er. »›Selig, die ein reines Herz haben; denn sie werden Gott schauen.‹«
    Verwirrt drehte Colbert die Karte um.
    »›Verflucht sind die Geizigen, denn sie werden sich nicht ihres unrechten Guts erfreuen. Verflucht sind die Hartherzigen, denn sie werden leiden müssen. Bedenkt, dass Euer Los beneidenswert ist. Der Verlust unrechtmäßig erworbener Reichtümer und persönliches Leid sind nur Warnungen. Sie sollen Euer Siegesbewusstsein schmälern und Euch auf die Gefahr hinweisen, die Euch erwartet, wenn Ihr weiter nach gewissen Papieren sucht, die der Kardinal Mazarin eine Zeitlang widerrechtlich besaß. Ihr würdet Euch in diesem Falle einem grausameren Schicksal aussetzen.‹«
    Colbert wäre beinahe erstickt, als er zu Ende gelesen hatte. Drohungen, in seinem Hause! Und die Heilige Schrift lästern!
    Die Hunde, dachte er. Diese Gauner: Verlust der Reichtümer! Es würgte ihn, doch er heftete die Augen wieder auf das Papier. Persönliches Leid? In das Rätsel vertieft, hörte er nicht, wie die Tür geöffnet wurde.
    »Monsieur«, rief die vertraute Stimme seines Kammerdieners ganz außer Atem, weil er ihn gesucht hatte. »Monsieur!«
    Colbert warf seinem Diener einen glühenden Blick zu.
    »Was gibt es denn zu dieser Stunde?«, knurrte er.
    »Ein Unglück, Monsieur, ein Unglück!«, jammerte der Diener.
    Eine schreckliche Ahnung ließ Colbert erstarren.
    »Mein Gott, Monsieur   …«
    »Nun los, sprich!«, herrschte Colbert ihn an.
    »Euer Vater, Monsieur   …«
    Wie vom Schlag getroffen sackte Colbert in sich zusammen. Das Papier fiel ihm aus der Hand und segelte zu Boden.
    »Man hat ihn heute Morgen in seinem Schlafgemach gefunden. Tot.«
    »Tot«, wiederholte Colbert benommen.
    Als würde ihn ein Lichtstrahl blenden, legte er die Hand vor seine Augen, wie um die Worte zu vertreiben, die davor tanzten: Verflucht sind die Hartherzigen, denn sie werden leiden müssen   …

Auf See, auf der Höhe von Nantes
    Montag, 12.   September, zehn Uhr morgens
    Der Wind war in der Nacht stärker geworden und hatte die Besatzung sogar einmal gezwungen, die Segel einzuholen. Trotzdem kam das Schiff schnell voran und glitt geschmeidig durch die hohen Wellen.
    Gabriel stieg die Schiffstreppe hinauf, die von den Kabinen der Passagiere an Deck führte. Um sich zu orientieren, blieb er einen Augenblick stehen, bevor er seinen Erkundungsgang in Richtung Heck fortführte. Am Fuß der Treppe zur Kommandobrücke setzte er sich. Die Segelkästen schützten ihn vor der Gischt. Vor sich sah er, wie der Schaum emporsprühte, wenn das Schiff sich wieder aufrichtete, nachdem es mit dem Bug in das Wellental eingetaucht war. Die unendliche Einsamkeit des Meeres zog ihn in ihren Bann. Ein einziges Mal erst hatte er zuvor den Ozean gesehen und seine nackten Füße ins Wasser getaucht.
    »Könnt Ihr schwimmen, Monsieur?«, hatte ihn der Kapitän am vorigen Abend gefragt, als er ihn zum Essen in seine Kabine eingeladen hatte. »Nein? Das ist gut, Ihr könnt ein hervorragender Seemann werden. Ich misstraue denen, die schwimmen können, denn sie passen dann weniger auf das Schiff auf«, hatte er lachend ausgerufen.
    Gabriel war den Fragen nach dem Ziel und dem Grund für seine Reise ausgewichen. Er war ein junger Mann, den seineFamilie für einige Zeit in die Fremde schicken wollte. Die Ausrede, er unternähme eine Bildungsreise, war auf Unglauben gestoßen, und der anzügliche, letztlich aber recht wohlwollende Blick des Kapitäns verriet ihm, dass er Bildungsreise in »Sittenskandal oder Duell« übersetzt hatte. Alles in allem war das auch ein besserer Deckmantel, glaubwürdiger und sicherer. Wenn er in New Amsterdam an Land ginge, wäre noch immer Zeit, sich umzusehen, wohin er sich wenden sollte.
    Gabriel streifte seine Handschuhe ab, griff mit der Hand unter seinen Mantel und zog einen versiegelten Brief heraus. Er hatte versprochen, ihn erst zu lesen, wenn er auf

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