1661
einige Zeit hielten. Er liebte es, durch sein Viertel zu streifen. Der Gegensatz zwischen dem Hofstaat, der am Abend das Theater im Palais-Royal füllte, und dem einfachen Volk in den belebten, lärmerfüllten Gassen der Hauptstadt wirkte auf ihn wie reine Alchemie. Das war für ihn das berauschende Parfüm von Paris.
Beim Schuhmacher in der Rue Saint-Antoine angekommen, sog er tief den Geruch von Leder ein, der den ganzen Laden erfüllte. Bei Meister Louvet arbeiteten mehrere Gesellen und Lehrlinge, und seine Werkstatt war groß und wohlgeordnet. Als der berühmte Handwerker, der die angesehensten Familien von Paris zu seinen Kunden zählte, ihn erblickte, unterbrach er sofort seine Arbeit.
»Monsieur Gabriel, wie schön, Euch zu sehen! Eure Stiefel sind fertig. Ich bin mir allerdings nicht sicher, ob sie den Sommer noch erleben. Sie sind in einem so schlechten Zustand wie der Kardinal.«
»Nichtsdestotrotz vielen Dank für Eure Mühe, Monsieur Louvet«, sagte der junge Mann und nahm das Paket entgegen, das ihm der Schuhmacher hinhielt.
»Habt Ihr das Pamphlet schon gesehen, das in der ganzen Stadt kursiert und heute früh auch an meiner Tür angeschlagen war?«, fragte Louvet mit leiser Stimme und wies auf einen Zettel, der vor ihm auf dem Tisch lag.
Gabriel wusste zwar, dass sich diese Art von Schmähschriften, die auch Mazarinaden genannt wurden, zu Zeiten der Fronde großer Beliebtheit erfreut hatten. Da er bisher jedoch noch nie eine zu Gesicht bekommen hatte, war er neugierig zu erfahren, was darin geschrieben stand.
»Erheben wir unsere Stimmen gen Himmel, und lassen wir die Luft durch unseren Jubel erbeben: Die Tauben werden gebraten auf die in den Straßen gedeckten Tische fallen, und überall wird Würzwein, Grave und Malvasier in Strömen fließen. Die Sonne erleuchtet nicht nur die Lüfte und lässt die Erde die Wärme ihrer Strahlen spüren, damit die Pflanzen wachsen und die Tiere sich daran erfreuen können. Nein, sie wirkt auch auf die Metalle, Minerale und Edelsteine, deren Schöpfung ebenso bewundernswert wie geheimnisvoll ist. Freue dich, Paris, und sei getröstet, kehrt dein Messias doch endlich wieder. Hat seine Abwesenheit dich auch mit Trübsal und Trauer erfüllt, so wird seine Gegenwart dir Freude, Pracht und Herrlichkeit bringen und der Überfluss, der darauf folgt, dir mehr Wohlbehagen denn je bereiten. Seine Gerechtigkeit wird dir zurückgeben, was dein ist, und die ihm innewohnende Stärke wird den Säulen deines Friedens Festigkeit verleihen wie nie zuvor. Und schließlich wird dir sein Kommen die Erfüllung und den Genuss deiner heftigsten Begierden verschaffen …«
Im selben geschraubten Stil ging es noch eine ganze Weile weiter. Im Mittelpunkt der Ausführungen, die der anonyme Schreiber seltsamerweise mit vielen beweiskräftigen Fakten untermauern konnte, stand die unglaubliche und skrupellose Bereicherung des Kardinals. Die Argumentation stützte sich unter anderem auf die Zahlen eines Waffenkaufs auf Staatskosten. Diese Bestellung bei dem bekannten Händler MaximilienPiton, versicherte der Verfasser, habe zu einer doppelten Verbuchung und zur Zahlung von Provisionen geführt, die den eigentlichen Rechnungsbetrag gewaltig nach oben getrieben hätten. In der Schmähschrift wurde behauptet, dass bei der Transaktion, die von einem Netz von Strohmännern durchgeführt worden sei, welche eine Vielzahl von Wechseln in ganz Europa eingelöst hätten, Mazarin mehrere hunderttausend Livre in die eigene Tasche gesteckt hätte. Des Weiteren wurden Einzelheiten einer undurchsichtigen Bodenspekulation aufgeführt, bei der jemand ein Grundstück aus königlichem Besitz – alles unbebaute Land war Eigentum des Königs – zu einem Spottpreis erworben und es gleich darauf mit einer enormen Gewinnspanne weiterverkauft hatte.
»Da steckt dieselbe Bande dahinter«, flüsterte der Schuhmacher Gabriel vertraulich zu, »Berryer, das heißt Colbert, und folglich Mazarin … Diese Anschuldigungen bestätigen das, was das Volk ohnehin schon lange ahnt. Der anonyme Verfasser verfügt offensichtlich über gute Quellen. An seiner Stelle nähme ich mich aber vor der Polizei des Kardinals in Acht. Ein solches Pamphlet kann ihn den Kopf kosten!«
Gabriel, der zusammengezuckt war, als er den Namen »Berryer« hörte, antwortete nicht. Er bezahlte die Reparatur seiner Stiefel und verließ die Werkstatt mit düsterer Miene. Bei der Lektüre der Schmähschrift hatte sich eine dunkle Ahnung
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