1664 - Die Schöne und die Grausame
nichts geschehen.«
»Ja, Schwesterherz, das kann ich nachvollziehen. Da hast du mein vollstes Verständnis.«
Elena war überrascht. Sie wusste nicht, was sie davon halten sollte. Unwillkürlich trat sie einen Schritt zurück. Ihre Lippen zuckten, aber sie schaffte kein Lächeln. Dafür schaute sie sich um, als wäre sie hier fremd. Es war mehr eine Geste der Verlegenheit.
»Ja - ahm - was soll ich dazu sagen?«
»Gar nichts. Ich werde es dir erklären. Heute tauschen wir.«
»Wie soll ich das denn verstehen?«
»Wir sind die Puppen!«
»Bitte?« Elena duckte sich. »Habe ich richtig gehört. Wir sollen die Puppen sein?«
»Genau. Wir übernehmen ihren Part. Denk daran, dass die Puppen ebenso aussehen wie wir, und das Stück…«
»Besteht doch nicht nur aus zwei Personen«, warf Elena ein.
Tabea nickte. »Das ist richtig. Das hast du völlig klar gesehen. Wir werden auch nicht nur als Duett auftreten. Wir holen uns die Mitspieler aus dem Publikum. Unter anderem deinen Freund Tim Helling. Und dann ziehen wir vor den Zuschauern die Show ab. Ist das nicht wahnsinnig?«
Elena King konnte nicht antworten. Sie war wie vor den Kopf gestoßen. Ihre Knie wurden weich. Erst jetzt durchschaute sie den Plan der Halbschwester. Sie würde sich Tim schnappen, ihn in das Spiel mit hineinbringen und ihm vor den Zuschauern das Blut aussaugen.
Elena spürte den Schwindel, der sie erfasst hatte. Sie schlug sich gegen die Stirn und flüsterte: »Das kannst du doch nicht tun! Ihm vor den Zuschauern das Blut aussaugen!«
»Es gibt kein Zurück. Ich habe mich entschlossen, und auch du wirst mich daran nicht hindern.«
Elena war nicht mehr fähig, eine Antwort zu geben. Ihre Schwester ließ nicht locker. Sie schaute auf die Uhr und nickte Elena zu. »Ich denke, dass es Zeit wird. Öffne die Kasse. Die ersten Zuschauer werden bestimmt gleich eintreffen. Ich bereite hier auf der Bühne alles vor.«
Elena nickte. Sie sagte nichts mehr. Sie drehte sich um und schob sich durch den Vorhangspalt in der Mitte, um ihrer Pflicht nachzukommen. Die Schwestern machten alles zu zweit. Auf einen Helfer konnten sie verzichten. Dass der Abend so verlaufen würde, das hatte sie sich nicht vorstellen können. Dicht hinter dem Eingang stand der Tisch mit dem Stuhl davor. Eine Kassette war auch vorhanden. Sie enthielt noch ein wenig Wechselgeld. Die Tür hatte einen Glaseinsatz und war noch geschlossen. Als Elena durch das kleine Fenster schaute, sah sie auf der anderen Seite einige Menschen stehen, die darauf warteten, eingelassen zu werden. Elena schloss auf und lächelte, bevor sie sagte: »Wenn Sie wollen, können sie den Eintritt schon bezahlen und auch im Raum ihre Plätze einnehmen.«
Das wollten die meisten. Wenig später hatte Elena zehn Karten verkauft. Unter den Besuchern befanden sich sieben Frauen und nur drei Männer. Ob alle Plätze besetzt werden würden, wusste Elena nicht. Das konnte sie sich auch kaum vorstellen. Ihr war es auch egal, wer kam. Sie wartete nur auf einen, auf Tim Helling…
***
Er hatte den Wagen nicht bis auf den Schulhof fahren lassen. Unter einer Laterne hielt der Fahrer an, drehte den Kopf und grinste.
»Geht mich ja nichts an, Sir, aber wollen Sie um diese Zeit noch die Schule besuchen?«
»So ungefähr.« Mehr wollte Tim nicht sagen. Er holte Geld aus seiner Hosentasche und übergab es. »Stimmt so.«
»Danke, Sir, und einen schönen Abend noch.«
»Gleichfalls.« Tim Helling stieg aus und trat auf den Gehsteig, während der Wagen wieder davon fuhr. Er war noch nie zuvor in dieser Gegend gewesen und wollte sich erst mal umschauen.
In der Dunkelheit war nicht viel zu sehen. Die beiden Gebäude lagen im Dunkeln. Ohne Probleme betrat er das Gelände der Schule. Der Boden war rau und an einigen Stellen aufgerissen. Auch hier hatte man dem harten Winter Tribut zollen müssen. Menschen sah er nicht. Vor sich allerdings hörte er Stimmen. Sie klangen harmlos, und er ging davon aus, dass es Besucher waren, die sich das Puppenspiel anschauen wollten. Er wusste nicht, wie alles ablaufen würde, richtete sich allerdings darauf ein, ebenfalls zwischen den Zuschauern zu sitzen und der Show beizuwohnen. Tim hielt zudem Ausschau nach dem Wohnmobil, das er allerdings nicht sah. Die beiden Halbschwestern mussten es an einem anderen Ort abgestellt haben. Sein Herz schlug schneller, als er seinem Ziel näher kam. Er orientierte sich am Klang der Stimmen, dann sah er die Besucher als Schattengestalten in der
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