1667 - Die Früchte des Wissens
flüsterte der hochgewachsene Nomade. „Und mein Verstand sagt mir, daß ich dich nicht am Leben lassen kann."
Niisu rüttelte heftig an seinen Fesseln. Aber sein neuer Feind hatte das Leder angefeuchtet, so daß es sich nur noch weiter zusammenzog. „Hapt! Kein Nomade hat je einem anderen ein Leid zugefügt!"
„Oh ... Dann wird es jetzt das erstemal sein."
„Das kann nicht sein!" rief Niisu verzweifelt. „Was ist mit dir passiert? Bei den Geistern aller Landen, ich verstehe das nicht!"
„Es ist nur ... weil ich größer bin als die anderen."
Niisu schluckte heftig; er begriff, daß er weder mit Zorn noch mit Todesangst weiterkam, daß er mit dem anderen reden mußte. „Du bist wirklich größer. Aber was soll das heißen? Willst du mir nicht erzählen, was passiert ist?"
Hapt kam aus der Hocke hoch und reckte sich. Gegen den strahlendhellen Himmel wirkte er wie ein schwarzer Riese. „Das interessiert dich wirklich, was? Na gut, Niisu. Wir dachten, ihr wärt beide tot, du und Cahlie. Also haben wir das Land Boor verlassen. Die Frauen sagten voraus, daß es ein Unwetter geben würde ... Sie behielten recht, und so liefen wir los, so schnell wir konnten. Wir erreichten das Hochland, und die Frauen fanden für jeden von uns Läufern eine Frucht. Aber für mich war es in der Höhe und in der Kälte schwerer als für die anderen. Ich wiege mehr als sie. Ich leiste sehr viel mehr, wenn ich durch das Gebirge Rok wandere. Niemand wollte das anerkennen. Also habe ich mir soviel Nahrung genommen, wie ich brauchte." Niisu begriff. „Du hast sie gestohlen", mutmaßte er. Hapt grinste böse. „Das haben die anderen auch gesagt, als sie es bemerkten. Vor fünf Tagen war das. Sie nahmen mir meine Werkzeuge und meinen Vorrat - und dann ließen sie mich allein im Gebirge zurück. Feuersteine sind im Gebirge leicht zu beschaffen, so konnte ich Feuer machen. Aber jagen? Es war mein Glück, daß ich einen anderen Trepecco getroffen habe. Noch dazu einen einzelnen; denn wie hätte ich einem Stamm erklären sollen, was ich hier allein und ohne Werkzeug treibe? Daß es außerdem dich getroffen hat, freut mich besonders. Wie schon gesagt: Ich konnte dich nie besonders leiden."
Voller Abscheu blickte Niisu den anderen an.
Hapt lachte. Er beugte sich hinunter und wühlte eine Zeitlang in den Lederbeuteln, die er zwei Meter von Niisu entfernt auf einen Haufen geworfen hatte. Heraus zog er das Eisenmesser. „Was denkst du, Niisu? Du weißt, daß ich dich nicht am Leben lasse. Du würdest mich verfolgen. Und irgendwann würdest du mich auch finden."
Haßerfüllt starrte er den anderen an. Wie konnte Hapt so ruhig dastehen? Wie war das möglich, solche Ungeheuerlichkeiten aus dem Mund eines Trepeccos? Dabei war es nicht die Angst um sein Leben, die ihn so durcheinanderbrachte. Niisu verstand einfach nicht, wie ein Mann seines Volkes einen Artgenossen töten konnte. Er schaute Hapt an, mit einemmal furchtlos, aus einem Gefühl der Überlegenheit heraus, das er sich nicht erklären konnte. „Binde mich los, Hapt!" forderte er. „Du redest irre."
„Binde mich los, und ich lasse dich am Leben."
Der andere kniete nieder und setzte das Messer an Niisus Hals. Ein Schnitt an dieser Stelle, das wußten beide, und er würde binnen einer halben Stunde verbluten. „Die Frucht lehrt uns nicht, wie man Leute aus dem eigenen Stamm umbringt. Du kannst es nicht tun, Hapt."
Einen Moment lang verzerrte sich das Gesicht des Läufers. Der Druck der Klinge wuchs. Niisu spürte förmlich den Blutstropfen, der sich löste. Aber dann entspannte sich Hapt; er sprang auf, und in seinem Gesicht glänzte wieder dieses Lächeln. „Du hast Glück, Niisu. Ich kann es tatsächlich nicht."
„Dann binde mich los."
„Nein. Das machen wir ganz anders."
Hapt kniete erneut bei den Lederbeuteln nieder, verstaute das Messer und suchte statt dessen ein paar Streifen Fleisch heraus. Die Nahrung roch abscheulich. Den Gestank verteilte der Wind rasch in alle Richtungen, doch die Streifen selbst warf Hapt vor Niisu auf den Boden. Was sollte das? Hapt hängte sich zuletzt die Beutel um und nahm die besten Stücke aus Niisus Fellkleidung an sich. „Unsere Wege trennen sich", sagte der andere. „Ich wünsche dir nichts Gutes. Aber das wirst du auch nicht bekommen, Niisu."
„Hapt! Warte! Was soll der Unsinn?"
„Das verstehst du nicht? Du hast mich immer für dumm gehalten, nicht wahr? Ich gebe dir einen Hinweis: Das hier ist ein gutes Jagdrevier, weil oft
Weitere Kostenlose Bücher