169 - Die Drachenmenschen
Schatten ringelte sich vom Hüttendach herab. Aber bevor die Schlange zubiß, packte Dorian sie in der Mitte und schleuderte sie mit einer einzigen Bewegung davon. Das Reptil landete im Feuer. Für einen Augenblick verdunkelte sich die Glut an der Stelle, dann schoß eine Stichflamme empor, umgeben von dichtem Rauch.
Ein vielstimmiger Aufschrei hallte über die Lichtung. Die Indianer sprangen auf, kamen drohend näher. Einige trugen Waffen.
Feodora kannte nun kein Halten mehr. Doch sie kam nicht weit. Krieger umzingelten sie, trieben sie mit Speerschäften und Fäusten auf die Lichtung zurück.
Auch Dorian wurde gepackt und zum Feuer gezerrt. Drei starke Pfähle waren nebeneinander in den Boden gerammt. An einem banden die Wilden soeben die sich heftig sträubende Mulattin fest. Der mittlere war für Dorian bestimmt und der dritte für Coco, die zwei Männer aus der Hütte schleiften. Sie stopften ihr irgendwelche Blätter in den Mund, und Minuten später war sie wieder vollends bei Bewußtsein.
„Wie geht es dir?" Dorian brauchte den Kopf nur ein klein wenig zu drehen, um ihr in die Augen zu schauen.
„Wie geht es schon jemandem kurz vor der Hinrichtung?" erwiderte die Hexe halblaut. „Wenn die Bande nur meine Arme nicht so festgezurrt hätte."
Dumpfer, blecherner Klang erfüllte die Nacht. Mit Holzstöcken entlockten die Indianer einem verbeulten Ölfaß und halbvollen Benzinkanistern die absonderlichsten Töne. Ihre bisherigen Kontakte mit der Zivilisation schienen sich auf das Zusammentragen solcher Gegenstände beschränkt zu haben. Vielleicht hatten die Kanister auch der verschollenen Expedition gehört.
Allmählich wurde der Rhythmus hektischer, begannen die Tanzenden sich wie Irrwische zu drehen. Immer mehr bemalte Leiber drängten sich vor dem Feuer.
Die Natur rings um das Dorf schwieg. Der Lärm der Blechtrommeln hatte wohl alle Tiere verjagt. Auch Feodora Munoz war so gefesselt, daß sie sich nicht bewegen konnte. Gequält warf sie ihren Kopf von einer Seite auf die andere, und wenn sie innehielt, drang ein verhaltenes Stöhnen über ihre Lippen.
„Feo!" rief Dorian.
Sie reagierte nicht.
„Du kannst ihr nicht helfen", erklang es von der anderen Seite.
„Dann unternimm du etwas", erwiderte Dorian gereizt. „Wenn meine Befürchtungen zutreffen, bleibt uns nicht mehr viel Zeit."
„Wir wissen nicht einmal, wem zu Ehren wir geopfert werden sollen."
Das Tamtam ebbte ab. Ins Feuer geworfenes Laub und Erde erstickten die Flammen nahezu. Nur ein düsteres Glühen blieb - und dunkler, schwerer Qualm, der sich erstickend über den Boden wälzte. Die Indianer traten zurück, bildeten eine Gasse, durch die einer von ihnen - wohl der größte und kräftigste - hoch erhobenen Hauptes hindurchschritt. Rote Striemen entstellten seinen bemalten Körper. Es sah aus, als hätte er sich selbst gegeißelt.
Der Qualm verschluckte ihn. Sekundenlang waren seine Umrisse noch zu erkennen, dann verschwand er völlig.
„Er ist weg", stöhnte Coco. „Ich spüre es. Und als er verschwand, breitete sich etwas Dämonisches aus."
Zwei Frauen brachten mit einer Flüssigkeit gefüllte Kalebassen. Die Art, wie sie die Gefäße behandelten, ließ erkennen, daß es sich bei ihrem Inhalt bestimmt nicht um Wasser handelte. Nacheinander tranken mehrere Männer davon.
Das ängstliche Meckern einer Ziege durchbrach die noch immer herrschende Stille. Ein junges Tier wurde herangetrieben. Zwei der Krieger, die getrunken hatten, hielten es fest, während ein dritter einen Dolch in die Glut hielt, sich dann abrupt umwandte und ebenso blitzschnell mehrere Schnitte ausführte.
Nur wenig Blut floß. Die Frauen fingen es mit den Kalebassen auf.
Jemand begann zu singen. Nach und nach fielen alle darin ein.
Wieder tranken die Männer. Mit tiefen, langanhaltenden Schlucken diesmal.
Die Zeremonie erreichte ihren Höhepunkt durch die Opferung des Tieres. Der noch warme Kadaver wurde aufgebrochen. Dorian vermutete, daß die Indianer aus verschiedenen Organen magische Arzneien zubereiteten. Bei vielen Naturvölkern war der Glaube verbreitet, daß solcherart besondere Kräfte beschworen wurden.
Jäh wandte Dorians Aufmerksamkeit sich anderem zu. Jemand nestelte an seinen Fesseln.
Im ersten Moment fürchtete er, sich getäuscht zu haben, doch da war dieses Gefühl wieder, daß die Schlingen sich langsam lösten. Dorian versuchte den Kopf zu wenden, um mehr zu erkennen. Aber erst als sein Blick die Mulattin streifte, wurde ihm klar,
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