1693 - Letzte Zuflucht: Hölle
An wen waren die Kinder geraten?
Ich hatte mit Mary Kendrick darüber gesprochen und keine Antwort bekommen.
Natürlich hatte sie mich wieder auf den alten Benson hingewiesen. Dass er der Meinung war, dass die Kinder schon jetzt für die Hölle vorbereitet wurden.
Es war fraglich, ob das stimmte. Möglich war es, dass man sie entführte und gar nicht lange festhielt, sondern nur für eine gewisse Zeitspanne, um etwas Bestimmtes zu erreichen.
Es war ein Problem, über das ich nachdachte und es auch Mary Kendrick gegenüber anschnitt. Das tat ich nicht zum ersten Mal. Es schien mir allerdings wichtig zu sein, und leider war die Antwort stets gleich.
»Ich kann Ihnen immer nur das sagen, Mr Sinclair, was mir der alte Benson erzählt hat. Im Gegensatz zu vielen anderen Menschen halte ich ihn nicht für beschränkt. Er geht schon mit offenen Augen durch das Leben, aber er sieht auch Dinge, die anderen Menschen verborgen bleiben.«
»Sprechen Sie von dem berühmten Zweiten Gesicht?«
»Das weiß ich nicht. Es kann aber sein. Solche Menschen soll es geben, aber das ist mehr Ihr Gebiet.«
Ich winkte ab. »Warten wir erst mal ab.«
Das hatten wir bisher auch tun müssen. Die Landung hatte sich etwas verzögert, die Maschine hatte noch einige Runden über den postkartenblauen Himmel drehen müssen. Die Passagiere konnten sich an dem Blick erfreuen, denn tief unter ihnen stießen Wasser und Land zusammen.
Später bekam ich den telefonisch bestellten Leihwagen. Es war ein schwarzer Golf aus der neuesten Produktion. Die Strecke bis Melrose war nicht weit, in einer knappen Stunde würden wir das Ziel erreicht haben.
Bisher hatte ich Mary Kendrick als eine lockere Person erlebt. Jetzt reagierte sie anders, sie war nicht nur schweigsamer, ich sah auch die Schweißperlen auf ihrer Stirn und einen Mund, der dünner war als sonst, weil die Lippen so zusammengepresst waren.
»Geht es Ihnen nicht gut?«
Sie hob die Schultern. »Ich weiß es selbst nicht, Mr Sinclair. Wir sind bald da. Dann werde ich wieder mit all dem hautnah konfrontiert, worüber ich mit Ihnen gesprochen habe.«
»Ja, das stimmt. Aber das war doch so gewollt.«
»Sicher. Nur ist es jetzt keine Theorie mehr. Sie werden erleben, wie die Menschen reagieren, wenn man sie auf ein bestimmtes Thema anspricht. Sie haben es akzeptiert, dass ihre Kinder wieder zurückgebracht worden sind, und sie fragen nicht mehr danach, warum sie verschwunden waren und wer dahintersteckt.«
»Da waren doch die Männer in diesem schwarzen Wagen, der mehrmals in Melrose gesehen worden ist. Oder habe ich Sie da falsch verstanden?«
»Nein, das haben Sie nicht. Es waren tatsächlich diese Männer, und auch das mit dem Wagen stimmt. Nur weiß ich nicht, wo die Kinder geblieben sind. Ich habe Eltern befragt und keine Antwort erhalten. Die Kinder sind sehr jung gewesen. Sie – sie können noch nicht sprechen. Man kann mit ihnen machen, was man will. Und das finde ich furchtbar.«
Es war nicht schwer, sich in die Lage der Frau hineinzuversetzen. Als Kindergärtnerin fühlte sie sich für ihre Schützlinge verantwortlich, und wenn so etwas geschah wie in Melrose, dann war das schon etwas Besonderes.
Fünf Kinder hatte es getroffen. Zumindest wusste Mary Kendrick nur von diesen. Ob noch weitere in Mitleidenschaft gezogen worden waren, das war ihr unbekannt.
Die Gegend, durch die wir fuhren, war wirklich etwas fürs Auge. Hügel, noch voll im Saft stehende Wälder, was weiter nördlich nicht mehr der Fall war. Eine blasse Vorherbstsonne leuchtete vom Himmel und gab mit ihren warmen Strahlen noch mal alles.
Auch über den Verkehr und die Beschaffenheit der Straße brauchten wir uns nicht zu beklagen.
Wir hatten noch nicht darüber gesprochen, wie wir die Dinge angehen wollten. Während des Flugs hatte ich kurz die Polizei erwähnt und ein heftiges Kopfschütteln geerntet.
»Nein, Mr Sinclair, auf Ihre Kollegen können wir nicht setzen. Die Kinder sind zwar entführt worden, aber sie waren ja sehr schnell wieder da. Da musste die Polizei nicht eingreifen.«
Etwas mussten wir unternehmen. Zudem rückte unser Ziel immer näher, und ich sprach das Thema erneut an.
»Darüber habe ich mir auch Gedanken gemacht, Mr Sinclair. Mir ist nur Benson eingefallen. Wenn jemand in Melrose die Augen offen hält und selbst im Hintergrund bleibt, dann ist er es. Mit ihm sollten wir wirklich ein Gespräch führen.«
»Okay. Sie kennen sich hier aus.«
»Danke, dass Sie so denken. Ich erkläre
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