1693 - Letzte Zuflucht: Hölle
bisher nicht wieder aufgetaucht. Ich könnte Ihnen nicht mal sagen, wo man überhaupt suchen sollte.«
»Sagen Sie mir die Zahl!«
Der Pfarrer schaute zu Boden. »Man spricht von fünf Kindern, die geraubt wurden.«
Wiebke Hiller hatte den Eindruck, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Sie war froh, sich festhalten zu können, doch zu einer Antwort war sie nicht fähig. Erst nach einer ganzen Weile flüsterte sie: »Und das hat man zugelassen? Man hat nicht die Polizei eingeschaltet?«
»Zu Beginn schon. Dann nicht mehr, denn einige der Kinder waren wieder da. Das haben die Eltern gesagt.«
»Und man glaubte ihnen?«
»Ja.«
»Sie auch?«
Der Pfarrer verdrehte die Augen. Dabei warf er einen flehenden Blick zur Kirchendecke.
»Ich weiß nicht, was ich noch glauben soll. Ich habe kein Kind gesehen. Logisch, denn in die Kirche traut sich niemand hinein, und die Eltern mauern auch. Ich denke, dass sie mehr wissen, aber nichts sagen können, weil man ihnen den Mund verboten hat. So kann ich mir das vorstellen.«
»Ja, ich auch. Aber die Probleme bleiben, Hochwürden.«
»Ich weiß.«
»Und ich habe ein Problem mit Lucas. Was soll ich mit dem Jungen machen? Seine Eltern wollen ihn nicht haben. Ich kann ihn aber auch nicht zurück in den Bahnhof bringen, wo ich ihn gefunden habe …«
»Das ist mir klar.«
Wiebke nickte. »Wohin also?«
Der Pfarrer zögerte mit einer Antwort. Wiebke sah ihm an, dass er sich unwohl fühlte.
»Sie leben hier«, sagte sie. »Sie könnten mir sagen, wo ich den Jungen hinbringen kann.«
»Das weiß ich nicht.«
»Ich will ihn ja nicht bei Ihnen hier in der Kirche lassen. Es muss doch in Melrose einen Ort geben, an dem ich und der Junge gut aufgehoben wären.«
»Haben Sie denn keine Angst?«, lautete die Frage.
Wiebke reckte ihr Kinn vor. »Es wäre gelogen, wenn ich sagen würde, dass ich keine Angst habe, aber hier geht es um mehr. Ich weiß durch Sie Bescheid, und obwohl ich nicht eben eine Kirchgängerin bin, kann ich nicht zulassen, dass sich fremde Mächte über Kinder hermachen, um sie zu bösen Menschen werden zu lassen.«
»Das ist richtig.«
»Dann helfen Sie mir! Springen Sie über Ihren eigenen Schatten. Sagen Sie mir einen Ort, wo ich die Nacht verbringen kann und mit dem Baby einigermaßen sicher bin.«
»Und dann?«
Wiebke schüttelte den Kopf. »Ich weiß noch nicht, wie es morgen weitergeht. Aber eines kann ich Ihnen versichern, ich werde die Dinge nicht auf sich beruhen lassen. Und ich bin mir nicht sicher, ob alles stimmt, was Sie mir erzählt haben.«
»Sie sind sehr mutig.«
»Das muss man manchmal sein. Außerdem werde ich morgen die Eltern des kleinen Lucas noch mal besuchen. Ich bin gespannt, ob ich dann die gleiche Reaktion erlebe.«
»Ich kann Ihnen nicht viel raten. Aber hier auf dem Grundstück gibt es ein Haus, in dem wir manchmal Gäste beherbergen. Dort können Sie die Nacht verbringen.«
»Ja, das ist super.«
»Ich würde Ihnen trotzdem raten, nicht zu optimistisch zu sein. Wenn in einem Menschen erst mal das Böse steckt, wird es bestimmt nicht von allein verschwinden.«
Wiebke nickte. »Darauf werde ich es ankommen lassen …«
***
Wir hatten den Flieger nach Edinburgh noch bekommen. Allerdings erst am folgenden Tag, und wir saßen auch nicht zu dritt in der Maschine, denn Suko sollte in London die Stellung halten.
Mary Kendrick, die neben mir saß, berichtete hin und wieder von ihrer Heimat und besonders von Melrose. Es war eine kleine, aber trotzdem eine der größeren Ortschaften in der Umgebung, weil sich bei Melrose auch einige Fernstraßen trafen. Es gab dort sehr preiswertes Bauland. Das hatte vor allen Dingen junge Familien nach Melrose gezogen. So hatte sich der kleine Ort erweitern können. Die Männer oder Väter arbeiteten oft in Edinburgh. Die Strecke war über die A7 mit dem Auto gut zu erreichen.
Ich bestätigte dies, denn ich kannte die Autobahn. Lauder lag nicht weit von Melrose entfernt, und in Lauder hatten mal meine Eltern gewohnt. Dort war noch mein Erbe vorhanden, ein ausgebranntes Haus auf einem leicht erhöhten Grundstück.
Ich hatte darüber nachgedacht, in Lauder vorbeizuschauen. Wenn alles erledigt war, würde ich es tun. Nur waren die Kinder wichtiger, und über sie dachte ich immer wieder nach.
Sie waren verschwunden und wenig später waren sie wieder da. Verändert. Zumindest in den Augen. Das hatte Mary Kendrick gesagt, und ich glaubte ihr.
Aber warum war das passiert? Was war der Grund?
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