1715 - Gewächs des Grauens
und benahm mich wie jemand in einem Actionfilm. Ich schaute mich nach allen Seiten um, aber die Straße blieb leer. Von irgendwelchen Verfolgern sah ich nichts, und ich glaubte auch nicht daran, dass sie sich in der Nähe verborgen hielten, um auf eine günstige Gelegenheit zu warten.
Auch Jane Collins war ausgestiegen. Sie ging bereits durch den Vorgarten auf die Haustür zu. Rechts und links schauten lilafarbene Krokusse aus dem Boden, als wollten sie schon jetzt den Vorfrühling begrüßen.
Jane hatte die Tür aufgeschlossen. An der Schwelle blieb sie stehen und wartete auf mich.
»Und? Ist dir jemand aufgefallen, der sich auf unsere Fersen gesetzt hat?«
»Nein, ganz und gar nicht.«
»Mir auch nicht.«
Bevor wir das Haus betraten, warfen wir noch einen letzten Blick über die Straße, die kein anderes Bild zeigte als sonst. Dann waren wir von außen nicht mehr zu sehen.
Ich zog meine Jacke aus, und auch Jane schlüpfte aus ihrem Mantel. Kaum hatten wir unsere Sachen aufgehängt, da meldete sich das Telefon. Die Apparate standen in den verschiedenen Etagen und schlugen dort auch an.
Die Küche lag am nächsten. Es war Janes Haus. Also ging sie hin und hob ab.
Ich war neugierig und stand in der offenen Tür, um zu hören, was Jane sagte.
Sie sagte nichts. Kein Wort drang über ihre Lippen. Sie hörte einfach nur zu, und auch das nicht lange, denn mit einem leisen Fluch auf den Lippen stellte sie das Telefon wieder auf die Station.
»Nichts, John«, sagte sie. »Da hat jemand angerufen und sich nicht gemeldet.«
»Klar, das fällt unter das Kapitel Kontrolle, man wollte herausfinden, ob du schon im Haus bist.«
»Das sind wir ja nun. Und deshalb bin ich gespannt darauf, wie es weitergeht.«
Das war ich zwar auch, dachte allerdings über etwas anderes nach und sprach Jane darauf an.
»Ich würde mir die Ikone gern mal aus der Nähe ansehen. Bist du einverstanden?«
»Warum denn nicht?«
»Okay, wo packen wir sie aus?«
»Das können wir hier unten in der Küche erledigen. Ich will die Ikone ja nicht aufhängen.«
In der Küche war Platz genug. Wir legten das noch eingepackte Bild auf eine freie Fläche. Dann befreiten wir es vom Packpapier und danach auch vom weichen Schutz, der sich anfühlte wie Samt, aber keiner war. Endlich lag das Bild vor uns. Wir beugten uns beide vor und schauten es an.
Im nächsten Augenblick zuckten wir zurück, als hätten wir uns abgesprochen.
Mit dem Bild war etwas passiert.
Es hatte sich verändert!
***
Im ersten Moment waren wir so baff, dass keiner von uns ein Wort hervorbrachte. Wir hatten das Gesicht auf der Abbildung im Katalog gesehen. Es war auch noch vorhanden, aber es hatte sich verändert.
Die Haut hatte eine andere Farbe angenommen, das Haar war roter, aber auch brüchiger geworden. Die Augen schienen noch enger beieinander zu liegen, und jetzt glaubte ich in den Pupillen so etwas wie einen bösen Blick zu erkennen.
Die veränderte Haut, die uns als Erstes aufgefallen war, schien dünner oder brüchiger geworden zu sein, aber noch schimmerten keine Knochen durch.
Jane atmete tief durch, bevor sie mit leiser Stimme fragte: »Verstehst du das?«
»Noch nicht.«
»Als würde das Bild leben«, flüsterte sie.
»So ist es auch.«
»Allmählich wird mir klar, weshalb die andere Seite so wild auf die Ikone ist. Darin steckt etwas. Das ist ein gewisses Gewächs des Grauens, und ich glaube nicht, dass hier ein Heiliger gemalt worden ist. Nein, bestimmt nicht.«
»Dieser Isidor soll ja ein Mystiker gewesen sein, und das kann so einiges beinhalten.«
»Du denkst an einen dämonischen Einfluss?«
»Genau daran. In ihm steckt etwas Böses. Manchmal werden Bilder auch geweiht, besonders dann, wenn sie Szenen aus der Bibel enthalten oder das Porträt eines Heiligen zeigen, aber wenn jemand dieses Bild geweiht hat, dann mit einem Segen aus der Hölle.«
Jane schüttelte den Kopf. »Davon hat mir der Bischof nichts erzählt.«
Ich hob die Schultern. »Nun ja, er kann es nicht gewusst haben, was ich nicht glaube, oder er fürchtet sich vor dem Bild. Wer weiß, was er damit anstellen wollte …«
»Bestimmt nicht aufhängen. Darin steckt etwas Schreckliches, das spüre ich. Das Bild ist eine Gefahr. Ich weiß gar nicht, was ich dem Bischof sagen soll …«
»Die Wahrheit.«
»Sicher. Aber zu dieser Wahrheit gehört auch, dass eine andere Macht oder Gruppe alles dransetzt, es in ihren Besitz zu bringen. Ich denke, dass diese Leute besser Bescheid
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