1715 - Gewächs des Grauens
zu spielen. Aber es gibt nur einen Sieger, und das sind wir.«
Sobic hatte genug geredet. Er verließ den Flur und ging zurück in das große Zimmer, wo er mit Jane Collins gesessen hatte. Das Wichtigste lag auf dem Tisch. Zwar hatte er noch keinen Blick auf die Ikone geworfen, aber das holte er nach.
Er musste das Papier zur Seite legen. Darunter sah er den Samtstoff, mit dem das Bild umwickelt war. Über dem Tisch hing eine Lampe. Die ließ er so dunkel, denn das normale Licht reichte ihm aus. Dann hatte er es geschafft und konnte einen ersten Blick auf das Gemälde werfen, das sein natürliches Motiv zurückerhalten hatte.
Sobic starrte in das Gesicht des Mystikers. Selbst bei diesem Licht sah er die Verklärtheit in den Augen. Aber darum ging es ihm nicht. Als wäre dieser Isidor eine lebendige Person, so sprach er ihn an.
»Du hast es geschafft. Du hast dich so angestrengt, und du kennst nicht nur den Himmel, du hast auch einen Blick in die Hölle werfen können. Deshalb bist du ein besonderer Heiliger für uns. Und man hat deinen Geist nicht sterben lassen. Ihn gibt es noch. Er ist immer bei dir, auch wenn man ihn nicht sieht.«
Sobic hatte genug gesprochen. Er packte das Samttuch an einem Zipfel und deckte das Bild mit dem Stoff wieder ab.
Der zweite Schritt war getan. Als ersten hatte er den Bischof aus dem Verkehr gezogen. Jetzt musste er den dritten Schritt gehen, und der stand auch bereits fest.
Noch am Tisch stehend holte er sein Handy hervor und rief eine bestimmte Nummer an.
Jemand meldete sich mit einem Wort, das auch für Sobic unverständlich war. Doch die Stimme kannte er.
»Es ist alles gerichtet.«
»Wie?«
Sobic lachte leise. »Ihr könnt kommen, und zwar sofort.«
»Gut. Was ist mit dem Bild?«
»Es liegt direkt vor meiner Nase.«
»Und weiter?«
»Es sieht gut aus.«
»Was ist mit dieser Schnüfflerin?«
Sobic nahm das Handy und drückte es gegen sein anderes Ohr. »Sie liegt hier auch. Allerdings nicht auf dem Tisch, sondern bewegungslos auf dem Boden.«
»Ist sie tot?«
»Nein, nur bewusstlos. Soll ich sie denn töten?«
»Später. Jetzt sind wir an der Reihe.«
»Wie viele seid ihr?«
»Genug.« Ein Räuspern war zu hören. »Bis gleich. Wir freuen uns schon auf den Besuch in der Kirche …«
***
Es gibt im Leben Bilder, die man so leicht nicht vergisst. Dieses Bild, das sich meinen Augen bot, gehörte dazu. Der blutende Bischof lag vor mir unter dem Altar und röchelte. Im Schein meiner Lampe sah ich, dass er von mehreren Messerstichen getroffen worden war. Einmal hatte ihn die Klinge dicht unterhalb der Kehle erwischt. Das Blut aus der Wunde war von der Kleidung aufgefangen worden. Aber auch an anderen Körperstellen sah ich die Flüssigkeit schimmern.
Ich glaubte nicht daran, dass der Bischof überleben würde. Wider mein besseres Wissen sprach ich davon, einen Notarzt zu rufen, doch den wollte Aldo Makarew nicht.
»Nein«, sagte er, und seine Stimme glich mehr einem Röcheln. »Das ist nicht nötig, ich werde sterben. Mein Mörder hat genau gewusst, was er tat.«
In mir war ein bestimmter Verdacht aufgekeimt, doch ich wollte Gewissheit haben.
»Und wer hat Sie mit dem Messer attackiert?«
»To-Tobias Sobic. Er ist ein Verräter. Er steht auf der anderen Seite. Er hat den Weg geebnet. Dabei habe ich ihm über Jahre hinweg mein Vertrauen geschenkt. Ich – ich – verstehe es nicht. Jetzt wird die andere Seite das Bild bekommen …« Er hustete, und ich fürchtete schon, dass er sterben würde, doch er riss sich noch mal zusammen, und so hörte er auch meine Frage.
»Was hat die andere Seite mit der Ikone vor?«
»Sie wollen Macht. Sie wollen diese Kirche hier übernehmen. Dann haben sie einen Stützpunkt. Sie werden das Bild hier am Altar aufstellen und ihn somit entweihen. Himmel und Hölle – Isidor soll beides gesehen haben, doch er muss sich für die Hölle entschieden haben. Das, was ihn hat böse werden lassen, steckt jetzt in seiner Ikone.« Er hustete wieder, und ich sah, dass er wirklich nicht mehr lange zu leben hatte. Er hob seine zitternde Hand an. »Ich habe alles versucht, das Bild in meinen Besitz zu bekommen. Es ist mir nicht gelungen. Ich habe versagt. Ich bin ein Ver …«
Er schaffte es nicht mehr, das letzte Wort auszusprechen. Nach der ersten Silbe brach sein Blick. Er sackte noch etwas in sich zusammen, dann lag er leblos unter der Altarplatte.
In mir kochte es. Ich verspürte den Wunsch, meine Wut hinauszuschreien, doch ich riss
Weitere Kostenlose Bücher