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172,3 (German Edition)

172,3 (German Edition)

Titel: 172,3 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vincent Voss
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gelben Sack. Den monströsen Karton schob er vor die Terrassentür und holte seine Jacke und Schuhe. Am späten Abend hatte es leicht geschneit und auf der Terrasse, seinem Rasen und den Ästen der Tannen lag der Schnee in einer hauchdünnen Schicht, die das matte Licht des Mondes reflektierte und fast zauberhaft glitzerte. Eigentlich wollte er den Heimtrainer noch eine Viertelstunde vor dem Fernseher ausprobieren (das sollte auch seine Bestimmung werden), aber in Anbetracht des Anblicks, der ihn entzückte, würde er vor dem Terrassenfenster trainieren, nachdem er den Karton und den gelben Sack in den Schuppen gebracht hatte.
Er schlüpfte in die Schuhe, zog die Jacke über und öffnete die Tür. Die Kälte schnitt ihm augenblicklich ins Gesicht, sein Atem kondensierte zu einer kräftigen Wolke.
»Brr …« Er zog die Schultern zusammen, nahm den Karton in die eine Hand, den Sack in die andere, und ging zum Schuppen, einen romantischen Blick auf den Mond und den angrenzenden Wald werfend. Jeder Schritt knirschte und er fragte sich, ob es letztes Jahr auch schon im November geschneit hatte.
Tür auf, Licht an. Er stapelte den Karton auf das Altpapier und stellte den gelben Sack zu seinen Kameraden, die ebenfalls auf die Abholung am Donnerstag warteten. Licht aus, Tür zu … und schnell wieder rein.
Ein Geräusch – und mit ihm sprang Viktor die Angst an. Die Angst vor einer neueren Vision (so nannte er seine Zustände jetzt), die ihn an seinem Verstand zweifeln ließ und die Tatsache, dass er beide Male umgekippt war. Bei der Kälte sah er durchaus ein gefahrvolles Risiko für sich.
»Scheiße«, flüsterte er, kniff die Augen zusammen und blickte intuitiv zum Wald.
Es war ein Rascheln. Etwas, dass über dünne, gefrorene Äste huschte. Er öffnete leise die Schuppentür und tastete blind nach dem Regal direkt am Eingang. Eine Taschenlampe. Zitternd knipste er sie an und richtete den Strahl auf den Eingang in ihren kleinen Tannenwald. Sofort raschelte es, er erschrak und versuchte die Größe des Tieres anhand des Geräusches zu ermitteln, allerdings fehlten ihm Erfahrungswerte. Größer als eine Maus – eine Ratte konnte es gewesen sein, aber er vermutete etwas noch Größeres. Ein Fuchs vielleicht? Eine Katze? Natürlich, das war eine Katze. Er ließ den Lichtstrahl über den Wald in Kniehöhe gleiten und verharrte dicht am Waldrand. Der Schnee hatte eine andere Farbe, dort wo es in den Wald hineinging. Er schluckte und ging näher heran. Erneut bewegte es sich im Unterholz. Das Geräusch kam nicht vom Hügelbeet, sondern direkt aus dem Wald, wo die Hängematte zwischen den Bäumen hing und das Vogelhaus stand. Auf den Wald starrend ging er näher zum verfärbten Schnee, wartete konzentriert und entschied sich dann, seine Aufmerksamkeit auf den Boden zu richten. Blut. Eindeutig waren es matte Blutspuren im Schnee, die sich auf eine Stelle konzentrierten und von dort in den Wald hinein führten. Keine Federn, keine Fellreste, nur Blut. Als hätte hier etwas gestanden oder gelegen, dabei geblutet und wäre zurück in den Wald gegangen oder gekrochen.
Wieder ein Geräusch, diesmal näher. Sofort hielt er die Taschenlampe hoch und schrie auf. Hinter einem blattlosen Ginsterstrauch erblickte er einen Schatten, der sofort in den Wald verschwand, als der Lichtstrahl in erfasste. Überrascht und geschockt ließ Viktor die Lampe fallen, keuchte und hob sie zitternd wieder auf. Was er gesehen hatte, konnte es nicht geben. Spontan fiel ihm das Wort ›Homunculus‹ ein – ein kleiner Mensch, der vor ihm in den Wald gelaufen war. Aber der kleine Mensch hatte keine Haut.
Rückwärts und in den Wald leuchtend, ging Viktor langsam zum Haus zurück, die Taschenlampe hielt er fest in den Händen. Er streifte sich die Schuhe ab, trat ins Wohnzimmer und nachdem er die Tür geschlossen hatte, erschauerte er am ganzen Körper. Was war los mit ihm? Selbst im scheinbar wachen Zustand begann er Dinge zu sehen, die Halluzinationen gleichkamen. Dinge, die psychotische Menschen sahen, die in geschlossenen Einrichtungen lebten, um sich und andere vor ihnen zu schützen.
Er erinnerte sich an das Wesen. Es war nicht größer als der Ginsterbusch, der ihm bis zum Oberschenkel reichte. Eher kleiner. Es hatte keine Haut. Wieder schüttelte es Viktor, aber in der Tat, es hatte keine Haut. Sein Fleisch glänzte feucht im Lichtstrahl und es erinnerte ihn an die anatomischen Klappbilder, die er aus dem Biologieunterricht kannte. Die Augen. Sie

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