172,3 (German Edition)
waren das Grässlichste an diesem Bild, welches sich in sein Gedächtnis gefräst hatte. Weiß und hervorquellend - unproportional zum Körper. Am Fenster stehend ließ er das Bild noch einmal zu und beschloss, es zu verheimlichen. Wie den gelben Sack im Schuppen verstaute er das Erlebte und räumte es an einen Ort, wo seine anderen beiden Visionen eingetütet auf etwas warteten, das hoffentlich Viktor selbst bestimmen konnte. Drei Säcke hatte er also nun in seinem Keller; die erste Begegnung, als er umgekippt war, seinen Albtraum mit mordenden Gemüsefiguren und den hautlosen Homunculus in seinem Wald. Was war eigentlich, wenn es keine Visionen waren? Er schlich zu Larissa ins Bett und wähnte sich mit diesem Gedanken auf dem ersten Pfad eines Wahnsinnigen. Als er am nächsten Morgen, bevor Daniela und Larissa aufgestanden waren, zum Wald ging und auf die Blutspuren im harschen Schnee starrte, glaubte er, diesen Weg ein langes Stück weiter gegangen zu sein.
161,1 kg
Freitag vor Weihnachten. Viktor blieb als Letzter im Klassenraum, sortierte seine Unterlagen und genoss, wie es in der Schule stiller wurde. Lautes Aufbrausen, Geschrei und Tumult; Schüler, die gingen. Es wurde immer leiser und unaufgeregter, bis nur noch einzelne Nachzügler ihre Sachen zusammenräumten. In dieser Phase suchten die Azubis manchmal das Gespräch. Heute nicht. Die Weihnachtszeit, die anstehenden Ferien, da wollte man nicht mit seinen Lehrern sprechen. Eine Tür knallte entfernt auf dem Flur, ein lauter Wortwechsel, Gelächter und dann Ruhe. Viktors Sachen waren zusammengeräumt, er ging zu den Fenstern und schloss sie.
»Schönes Wochenende«, sagte Kellermann, der seinen Kopf in den Klassenraum streckte. Viktor drehte sich zu ihm um. Kellermann hatte – wie immer – mindestens vier Taschen, die er mit nach Hause nahm.
»Ja, dir auch. Mach´s gut.«
»Büro is´ noch auf«, sagte Kellermann und verschwand ins Wochenende. Viktor nickte stumm. Am Fenster blieb er stehen und sah, wie sich Azubis und Lehrer auf dem Parkplatz in ihre Autos verteilten. Einige der Schüler gingen über den Hof zum Internat. Es roch nach Essen aus der Mensa, aber Viktor hatte keinen Hunger. Das Einzige, was ihm momentan gelang: Abnehmen. Er seufzte. Nicht mehr lange und es würde gefrieren. Eisregen hatten sie im Radio angekündigt, dennoch hatte er es nicht eilig, nach Hause zu kommen. Mit Larissa lag er nahezu dauernd im Streit. Nach seiner Meinung lag es daran, dass er sich nicht mehr alles gefallen ließ und häufiger als bisher seine Meinung einbrachte. Larissa fand, er würde grob sein, unsensibel und egoistisch. Konflikte entbrannten permanent in Alltagssituationen des Zusammenlebens – das gemeinsame Essen, die gemeinsame Ordnung (vor allem im Wohnzimmer) und, wenn sie über Daniela sprachen. Daniela, seine Tochter und ihr Freund David. Eigentlich hatte Daniela Schluss machen wollen mit David, sie war sich nicht mehr sicher mit ihm, mit einer Beziehung und dem Leben überhaupt. Viktor sah es so: Pubertärer Weltschmerz, den jede Jugendliche in Danielas Alter zu bewältigen hatte. Larissa warf Viktor vor, hartherzig und gefühlskalt zu sein. Seiner Tochter hatte er empfohlen, “Deyvid“ – das Weichei – in den Wind zu schießen, neue Prinzen würden warten. Seitdem hatte sich Daniela mit Larissa verschwestert, sagte ihm gegenüber, dass David der Mann ihres Lebens sei, und seine Frau und seine Tochter mieden ihn. Zuhause war er nicht erwünscht. Und hier?
Er ging zu seinem Schreibtisch, nahm seine Sachen unter den Arm, knipste das Licht aus und schloss die Tür hinter sich ab. Es dämmerte, deshalb schaltete er das grelle Flurlicht an, welches mit einem metallischen ›Pling‹ der Deckenröhren aufflackerte und verschwenderisch den gesamten Flur von den Orthopäden bis zu den Glasern erleuchtete. Die Glaser schienen dieses Jahr handzahm zu sein. Seine Klasse hatte er in einem Austausch unter Lehrern noch nicht einordnen wollen. Selbst Kellermann blieb mit einem Urteil zurückhaltend. ›Da is´was unter´m Eis‹ , hatte er gesagt, und treffender hätte er es nicht formulieren können. Viktors drei “Kandidaten“ hatten viele Fehlzeiten, aber sie bewegten sich an der Grenze der Zulässigkeit. Die Klasse war zurückhaltend; selbst Dennis, Alexander und Sascha – fast zu zurückhaltend.
Außer mit Kellermann, dem das ziemlich egal schien, konnte Viktor mit niemandem darüber reden. Direktor Kirschstein hielt alles für geregelt und auf
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