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172,3 (German Edition)

172,3 (German Edition)

Titel: 172,3 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vincent Voss
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dessen Urteil wollte Viktor sich auch nicht verlassen. Er schlenderte ins Büro und musste auf dem Weg nach einer freien Hand suchen, um sich seine Hose hoch zu ziehen. Er lächelte.
»Ja, da bist du ein Hengst, mein Freund!«, sagte er zu sich und lachte.
Im Büro stellte er die Ordner in den Schrank und packte seine Tasche. Was war das? Auf seiner Tastatur lag eine CD oder DVD. Hatte Kellermann ihm etwas ausleihen wollen? Viktor glaubte es nicht, das wäre nicht seine Art gewesen. Er setzte sich und holte den Rohling aus dem Umschlag, eine beschriftete DVD. ›Thomas frisst Scheiße‹ stand bedruckt darauf. Viktor schüttelte den Kopf, weil er keinen Zusammenhang erkennen konnte. Seiner Neugier nachgebend und deswegen aufstöhnend fuhr er den Rechner hoch. Thomas hieß einer seiner Schüler. Der einzig Langhaarige. Das war früher anders gewesen. Konnte der Thomas gemeint sein? Er schob die DVD ein, suchte nach dem richtigen Format und spielte sie ab.

*
Thomas’ Körper trug die Zeichen seines Leids sichtbar in roten Striemen auf der nackten Haut, das Leid seiner gedemütigten Seele konnte man in seinem Blick ermessen. Ein langes Stöhnen verwandelte sich in ein klagvolles Winseln. Ein kurzes Geräusch, ein entsetzter Blick, der Versuch, sich wegzudrehen, zu schützen und der hagere Leib erfuhr einen Hieb. Er zuckte zusammen und verbarg sein Gesicht hinter seinen langen Haaren, die ihm ins Gesicht fielen. Das Bild erstarrte in Großaufnahme.

Thomas war an den Händen gefesselt. Wo vorher Angst in seinem Blick gestanden hatte, wuchs Panik. Die Kamera wackelte, zeigte ein silbernes Tablett auf einem Stuhl. Die Kamera zoomte näher an das Tablett, schwenkte wieder auf Thomas, der sich abwandte. Ein Zettel wurde vor die Kamera gehalten, man erkannte nicht das Geschriebene, weil es unscharf war. Das Bild wurde klarer. ›Thomas frisst Scheiße‹ stand auf dem Zettel.

Thomas stand gebückt über dem Stuhl, die Haare hingen ihm ins Gesicht. Dennoch sah man, dass er die Augen geschlossen hielt. Die Kamera fuhr auf ihn zu, umrundete ihn seitlich. Er entleerte sich auf das Tablett, die Kamera wechselte mehrmals die Perspektive. Großaufnahme von dem, was auf das Tablett fiel, wegfahrende Kamera und die Totale. Close Up von Thomas’ Gesicht. Und wieder das Tablett und sein Hinterteil. Es dauerte, bis Thomas fertig war. Als würde er weggestoßen worden sein, wankte er zurück, die Kamera hielt auf das Tablett und den Haufen Kot, der darauf lag.

Thomas. Zitternd hockte er vor dem Stuhl, vor dem Tablett. Seine Augen waren immer noch geschlossen, aber man konnte sehen, dass er weinte oder geweint hatte. Ohne eine sichtbare Einwirkung zuckte er zusammen, streckte zögernd eine Hand zu seinem Kothaufen aus. Griff hinein, zuckte erneut und griff fester in den Haufen. Er führte seine Hand zum Mund, würgte, schüttelte den Kopf und verbarg sein Gesicht in beide Hände.
Die nächste Einstellung glich der vorherigen, nur Thomas wirkte gebrochener. Apathisch griff er auf das Tablett, führte die Hand zum Mund und schob sich die Scheiße hinein. Großaufnahme Gesicht … Schwenk Haufen … Schwenk Gesicht.
*
Viktor beendete den Clip und lehnte sich schwer atmend in seinen Bürostuhl zurück. Er hatte einiges erlebt, aber das Gesehene übertraf sämtlichen empfundenen Ekel, sämtliches Unbehagen, sämtliche Entrüstung, die er bisher bei dem Leid anderer empfunden hatte. Es war etwas anderes, mit einem Kollegen im Kino Filme zu sehen, die Mobbing thematisierten. Alle Filme, die er bisher von Azubis gewollt oder ungewollt zu sehen bekommen hatte, erreichten niemals diese Qualität der Demütigung. Viktor hatte sich noch nie so hilflos im Beruf gefühlt. Er konnte keinen klaren Gedanken fassen und neigte zu einer hysterischen Schnappatmung. Er hielt sich eine Hand vor den Mund und starrte auf seinen Schreibtisch. Freitag nach Schulschluss. Wann hatte er das letzte Mal vor seinem Rechner gesessen? In der großen Pause. Er hatte eine Mail geschrieben und die DVD hatte noch nicht auf seiner Tastatur gelegen. Danach hatten Kellermann und er das Büro abgeschlossen. Bis vorhin. Kellermann war nach Hause gegangen und er hatte seine Sachen zusammengesucht. In der kurzen Zeit musste ihm jemand die DVD auf seinen Platz gelegt haben. Er holte die Scheibe aus seinem Rechner, überlegte und wählte die Hausdurchwahl von Kirschstein. Nichts. Nach dem achten Klingeln legte er auf. Er könnte zur Polizei gehen. Wahrscheinlich sollte er

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