172,3 (German Edition)
das auch, aber in den Fällen, in denen sie die Polizei in die Schule oder ins Internat gerufen hatten, hatten die Beamten die Situation erheblich verschlimmbessert. Vor zwei Jahren ließen sie die Situation im Internat durch ihr Verhalten sogar eskalieren, als sie wegen einer Bagatelle einen Großeinsatz durchführten.
Viktor dachte an Thomas. Er musste geschützt werden. Er musste ermutigt werden, die Schmach zu melden, aber dafür war Fingerspitzengefühl erforderlich und keine Brechstange. Er würde die DVD mit nach Hause nehmen und am Wochenende sehen, wo er sich Hilfe holen konnte. Er hatte vor Jahren ein Anti-Mobbing-Seminar besucht und in dem Unterrichtsmaterial befanden sich einige Anlaufstellen, die man aufsuchen oder anrufen konnte. Viktor nickte sich bestätigend zu und fuhr den Rechner herunter. Erschüttert nahm er seine Sachen, schloss das Büro ab und verließ das Schulgebäude.
Kaum, dass er einen Fuß vor die Tür gesetzt hatte, verharrte er. Es regnete und der Weg zu seinem Auto war vereist und spiegelglatt. Vorsichtig balancierte er in der späten Dämmerung über den Parkplatz. Unter dem Vordach der Mensa standen die Internat-Azubis, rauchten und schlitterten auf einer Eisbahn vor den Treppen entlang. Viktor hatte es geschafft, schloss auf, ließ sich in den Wagen fallen und schüttelte den Kopf. Die Bilder des Films waren nicht zu verdrängen, ständig tauchten sie vor seinem inneren Auge auf. Er startete den Wagen und fuhr los. Lediglich der Parkplatz war glatt, schon die Zufahrtsstraße zur Schule war befahrbar. Er musste noch einmal mit der Fähre hinüber, bei der Bank Geld abheben und Obst und Gemüse beim Händler abholen. Er hatte Kokosnüsse und frischen Ingwer bestellt und wollte asiatisch kochen.
Viktor bog auf die schmale Straße zum Fähranleger ein und kam auf der langen, geraden Strecke durch einen Wald, wo sie öfter Spazieren gingen, hinter einem anderen Wagen fast zum Stehen, so langsam war dieser unterwegs. Fast Schritttempo.
Viktor sah auf die Uhr. Die Zeit war knapp. Der kleine Laden schloss um 17 Uhr und die Fähre legte immer nur ab, wenn ausreichend Passagiere vorhanden waren. Der Weg zur Bank, zum Laden ... es konnte wirklich verdammt knapp werden.
»Scheiße!«, fluchte Viktor und fahndete nach einer Alternative für das Abendessen.
Augenblicklich dachte er an McDonald’s und ein Teil in ihm arrangierte sich freudig mit dieser Option. Viktor schnaufte verächtlich, als er den Mechanismus in sich erkannte.
»Nein, wir fahren nicht zu McDonald’s«, sagte er zu sich und beugte sich vor, um zu erkennen, warum der Wagen vor ihm so langsam fuhr. Überholen war zu riskant. Es gab keine vernünftige Fahrbahnabgrenzung und er hatte keine Lust, wegen ein paar Kokosnüssen in den Graben zu fahren. Den Silhouetten nach zu urteilen trug der Fahrer einen Hut und es gab einen Beifahrer. Die Hutablage mit Klorolle hatte er immer für ein Phantomklischee gehalten. Er hatte nie jemanden damit herumfahren sehen, doch heute bestätigte sich die Gültigkeit dieses Vorurteils.
Vor ihm fuhr in einem alten Volkswagen ein Seniorenpaar mit Toilettenpapierrolle auf der Hutablage. Und zwar ganz offensichtlich auf dem Weg zum Festland.
Na prima! stöhnte Viktor.
Die Strecke war lang und später würden noch einige Verkehrsberuhigungen auf sie warten.
Was soll’s , dachte er und wollte sich eben mit seinem Schicksal abfinden, da erkannte er den wahren Grund dieser Schleichfahrt und augenblicklich kochte Wut in ihm hoch. Ein Radrennfahrer!
Es gab nur wenige Dinge die Viktor hasste. Aber Radrennfahrer, die SEINE Straße benutzten, obwohl ausgebaute Radfahrwege parallel entlangführten, die sich mit einem fast identischen Leibesumfang in neonfarbene Anzüge zwängten und dann im Schritttempo eine komplette Fahrbahnhälfte blockierten und vorzugsweise in der Dämmerung ohne Beleuchtung fuhren ... die hasste er abgrundtief! Und doppelt so sehr, wenn sie ihm gerade im Weg waren, wenn er es eilig hatte.
Der Zorn spülte alle vorherigen Gefühle und Bilder fort, holte ihn ins Hier und Jetzt.
Er hupte.
»Mann, warum überholt ihr Pisser den denn nicht!«, entrüstete er sich und drückte ein weiteres Mal auf die Hupe. Der Wagen vor ihm hielt sowohl die Spur wie auch das Tempo, aber den Insassen galten Viktors Attacken nicht. Er scherte links aus, sodass er den Radfahrer in der Dunkelheit besser sehen konnte. Ein gebeugter Rücken und ein ausgestreckter Mittelfinger! In Viktor erwachten anthropologische
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