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172,3 (German Edition)

172,3 (German Edition)

Titel: 172,3 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vincent Voss
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Urinstinkte. Schnaubend ließ er das Fenster runter, doch der Fahrtwind konnte sein Gemüt nicht kühlen.
»Verdammt, verpiss dich von der Straße! Es gibt einen Radweg. Der ist für dich da!“, schrie er. Der Radfahrer erhob sich im Sattel, drehte sich um, reckte die geballte Faust und schrie zurück. Viktor konnte ihn nicht verstehen. Brauchte er auch nicht. Er konnte sich die Antwort denken.
»Du Arschloch!«, schrie Viktor.
Er gab Gas, bemerkte, dass es unsinnig war. Er konnte nicht überholen, und der Wagen vor ihm zeigte erste Fahrunsicherheiten, indem er abbremste, wieder beschleunigte und leicht schlenkerte. Der Radfahrer fuhr weiter in die Mitte und drosselte das Tempo.
»Das Arschloch. Das verdammte Arschloch!«, brüllte Viktor, hupte, beschleunigte, bremste ab und schlug aus lauter Hilflosigkeit auf sein Lenkrad. Sie fuhren jetzt im Schritttempo. Viktor schüttelte den Kopf und suchte nach einem Ventil für seine aufgestaute Wut, deren Grund arschwackelnd vor ihm wie eine leuchtende Presswurst radelte. Er lachte hysterisch.
»Du bist so ein kleiner Pisser. Sooo ein Pisser!«, schrie er.
Dadurch, dass sie langsamer fuhren, konnte der Radfahrer ihn vielleicht verstehen. Und vielleicht würde er sich wenigstens genauso über ihn ärgern. Ein dumpfer Schlag auf seiner Windschutzscheibe, ein Gegenstand, der abprallte und über seinen Wagen fiel. Im Reflex sah Viktor in den Rückspiegel. Er konnte nichts erkennen. Eine Getränkeflasche, mutmaßte er und ließ sich in den Sitz sinken. Unglaublich. Diese Frechheit und Dreistigkeit nahm für Viktor ungekannte Ausmaße an und er bemitleidete sich ein wenig, auch wegen der Ereignisse, die schon hinter ihm lagen.
»Das gibt es nicht! Das gibt es einfach nicht!«
Vorsichtshalber drosselte er das Tempo und ließ zwei Wagenlängen Abstand zum vorderen Fahrzeug. Sollte der Radfahrer auch die Fähre nehmen müssen, würden sie sich spätestens dort begegnen. Und dann? Sollte er es auf eine körperliche Auseinandersetzung ankommen lassen? Der Radler sah durchtrainierter aus als er. Das Alter hatte er nicht bestimmen können.
»Scheiße!«, fluchte Viktor erneut. Er musste ihn doch überholen.
Vorsichtig scherte er aus, sodass er auf der linken Fahrbahnseite fuhr, und näherte sich dem vorderen Wagen. Lichter vor ihm. Gegenverkehr. Er scherte wieder ein, nestelte am Gurt herum und stellte das Radio ein. Kalte Wut, das Abwägen der sich am Fähranleger einstellenden Konsequenzen und die ersten Ausläufer von Schamgefühl vermengten sich in Viktor. Durch ein Nadelöhr zwängten diese divergierenden Gefühle hinaus und ließen apokalyptische Bilder auftauchen: Er, wie er zukünftig Fahrradfahrer einfach abschoss; wie er sie stellte und zur Einsicht quälte.
»Verfluchter Sack«, zischte er.
Der entgegenkommende Wagen blendete ihn, wahrscheinlich ein Transporter oder kleinerer LKW. Der Radfahrer hielt die Spur in der Mitte und hatte offenbar nicht die Absicht, das Tempo zu erhöhen. Der Volkswagen vor ihm fuhr plötzlich dicht auf, um genauso schnell wieder abzubremsen. Ein Signal der Parteilichkeit des Senioren? Viktor vermutete es.
»Geh’ tot, du Wichser!«, zischte Viktor den Fluch, den ein ehemaliger Schüler immer benutzte, und ließ eine Hand in die Höhe fahren. Und die Zeit stand kurzfristig still.
*
Es war ein Transporter, der ihnen entgegenkam.
Für einen Transporter der Sprinterklasse fuhr er langsam, für diese schmale Strecke durch den Wald aber immer noch zu schnell. Scheinbar grundlos scherte der Radfahrer plötzlich auf die Gegenfahrbahn aus, versuchte den Schlenker zu korrigieren, das Hinterrad verlor seine Bodenhaftung, er bremste, schlitterte seitwärts auf den Transporter zu und … wurde von ihm erfasst. Wie eine Puppe wurde er erst unter das Fahrzeug gezogen, dann hochgeschleudert.
Der VW bremste. Viktor bremste.
Der Körper flog an seiner Seitenscheibe wie ein Schemen vorbei, verschwand im Dunkeln und prallte, nicht weit von Viktors Wagen entfernt, im Wald gegen einen Baum.
»Ach du Scheiße …«, stammelte Viktor, schnallte sich ab und stieg aus. Die Insassen des VW blieben im Wagen, der Fahrer des Transporters kam auf ihn zu.
»Der ist einfach vor´s Auto gefallen. Einfach vor´s Auto. Ich hab noch gebremst, aber … mein Gott … einfach vor´s Auto!“
Viktor nickte ihm ohne es wahrzunehmen zu und spähte in den Wald.
»Hier. Er muss irgendwo hier hinein geschleudert worden sein«, sagte er, verließ sich auf sein Gedächtnis, überquerte die

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