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172,3 (German Edition)

172,3 (German Edition)

Titel: 172,3 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vincent Voss
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Fahrbahn, schritt am Graben einige Meter entlang und fand eine Stelle über die er hinüberspringen konnte. Ein Ast stach ihm in die Wade. Viktor würde es erst viel später bemerken.
Das linke Licht des Transporters war durch den Aufprall erloschen, aber der rechte Scheinwerfer leuchtete den Rand des Waldes aus. Surreal zogen die blattlosen, nassen Äste an Viktor vorbei. Der zitronengelbe Dress des Radfahrers half, ihn zu finden. Er lag vor dem moosgrünen Stamm eines Baumes als würde er schlafen. Lediglich die Neigung des Kopfes und der dunkle Fleck auf der Baumrinde zeugten von einem schlimmen Schicksal des Sportlers. Viktor schluckte, traute nicht, sich zu nähern. Der Fahrer des Sprinters erreichte ihn und stellte sich dazu. Beide benötigten ein paar Sekunden, um sich zu sammeln.
»Hoffentlich ist nichts Schlimmes passiert«, murmelte der Fahrer und ging näher.
»Hallo?«, fragte er vorsichtig. So, als wenn er herausfinden wollte, ob jemand schlafen würde. Viktor folgte ihm. Der Sprinterfahrer kniete sich hin, Viktor suchte nach seinem Handy.
»Ich rufe einen Krankenwagen«, teilte Viktor mit, wandte sich ab, wählte die 112 und schilderte den Unfall. Er beschrieb den Ort, kühl und sachlich.
»Sie können nicht sagen, wann sie hier sind. Sie beeilen sich«, sagte er an den Knienden gerichtet, der, wie er feststellte, sein Gesicht in seinen Händen verbarg.
»… tot!«, hörte Viktor.
»Was?«, fragte er nach.
»Er ist tot … glaub ich. Weiß nicht … Ich glaub’, ich hab ihn totgefahren.«
Er sah Viktor an und begann hemmungslos zu heulen. Viktor sah zu dem Radfahrer und konnte den Blick nicht abwenden. Tot. Eben noch hatte er sich mit dem Mann gestritten, ihn gehasst. Und nun lag der tot an einem Baum. Abwesend, wie aus einer Welt in eine andere sehend, wunderte er sich über die Fragilität des Lebens und ängstigte sich augenblicklich vor der Macht des Todes.
So schnell konnte es gehen.
Was wäre gewesen, wenn er sich nicht über den Fahrradfahrer aufgeregt hätte? Wenn er ihn nicht provoziert hätte?
Er wollte die Frage verdrängen, als sie ihm den Schlüssel zu einer weiteren Wahrnehmung lieferte. Eine Wahrnehmung am Rande des Blickfelds, kurz bevor der Radfahrer ausgeschert war.
Viktor erinnerte sich.
Etwas Kleines war dort aus dem Wald gesprungen. Aber es war kein Tier. Er hatte es schon einmal gesehen. In seinem Garten.
Viktor wurde schlecht und er übergab sich.
*
Er hielt in der kleinen Parkbucht im Krähenwald, ließ den Motor laufen und tastete in der Papiertüte nach seinen Einkäufen. Wärme strahlte ihm aus den verschiedenen Pappschachteln entgegen und ein letztes Mal vernahm er die Stimme der eisernen Disziplin in sich: Denk an die Pro Points.
Scheiß drauf. Er angelte sich einen Cheeseburger, entblätterte ihn und biss von ihm ab, noch während er nach dem McRib griff.
Unbehaglich fühlte er sich. Kein Wunder, beschwichtigte ihn seine Vernunft und erinnerte ihn an den Unfall mit tödlichem Ausgang, das Prozedere seiner Zeugenaussage und die darin enthaltene Spannung, ob er eine Mitschuld an dem Unfallhergang trug. Er hatte sein Verhalten verschwiegen, wollte es erst eingestehen und behandeln, wenn das ältere Ehepaar sich dazu äußerte, doch offenbar hatten sie seinen Streit mit dem Radfahrer nicht erwähnt oder besser noch, gar nicht wahrgenommen.
Aber es war nicht das Unbehagen ergreifender Ereignisse, die ihm in den Knochen steckten und deren Wirkung er für die Zukunft noch nicht abschätzen konnte. Es war das Unbehagen, welches Beobachtete und Verfolgte spürten. Er kaute langsamer und spähte an den Waldrand, dort wo der Lichtstrahl seiner Scheinwerfer Löcher in die Dunkelheit riss, zur Straße und zum Waldrand, der rechts von ihm in völliger Schwärze lag. Er dachte an die Gestalt, die er gesehen hatte und das, was der eine Polizist am Ende seiner Vernehmung geäußert hatte, und ihm lief ein kalter Schauer über den Rücken. Mit der elektronischen Zentralverriegelung sorgte er für Sicherheit und dennoch wurde er das beklemmende Gefühl nicht los, dass ihn etwas beobachtete. Gierig biss er in den McRib und stopfte sich einige Pommes hinterher. Sein asiatisches Essen konnte er vergessen. Aus Frust und alten Mechanismen heraus war er zu McDonalds gefahren und hatte eine große Bestellung aufgegeben, die nur in zwei Papiertüten Platz fand, und einmal so getan, als müsse er überlegen, mit welcher Bestellung Daniela ihn beauftragt hatte. »Ich weiß nicht, wollte sie einen

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