172,3 (German Edition)
Viktor. »Ich werde es mir durch den Kopf gehen lassen und mich dann vielleicht bei Ihnen melden. Ähm, ich muss jetzt meiner Familie …« Er zeigte hinter das kleine Häuschen zum Wichtelpfad.
»Lassen Sie sich nicht zu viel Zeit. Es wird stärker!«
Sie nickte ihm zu, drehte sich um und ging zurück auf die Promenade der Obertrave.
Viktor blieb nachdenklich stehen. Etwas folgte ihm. Dieser Gedanke war bisher spekulativ, einer unbestimmten Ahnung gleich kommend. Jetzt wurde sein Verdacht von außen bestätigt. Von jemandem, der ausgab, sich auf dem Feld der synkretistischen Geistheilung auszukennen, was immer das sein sollte. Sein bisheriges Weltbild drohte Kopf zu stehen. Etwas folgte ihm. Gedankenversunken und mit einem über den Rücken laufenden Schauer folgte er Larissa und Daniela in den Wichtelwald. Mehr als einmal sah er sich um, und wirkliche Freude und Unbekümmertheit wollte sich den Rest des Abends nicht wieder einstellen.
159,0
Ein Tag – ein Kilo verloren. Viktor war überrascht, konnte sich aber kaum freuen, denn als er morgens seine Sachen für die Arbeit packte, fiel ihm die DVD mit dem Film ›Thomas frisst Scheiße‹ aus seiner Mappe. Er hatte sie nach dem Unfall und nach dem Streit und der Versöhnung mit seiner Familie verdrängt, wenn nicht sogar vergessen.
»Verdammt«, ärgerte er sich und beschloss, auf die morgendliche Dusche und das Frühstück zu verzichten, um als einer der ersten in der Schule zu sein. Er würde den Film vor Unterrichtsbeginn mit Direktor Kirschstein sehen wollen und dann sollte der entscheiden, ob die Polizei eingeschaltet werden sollte oder nicht. Eilig verließ er das Haus, setzte sich in den Wagen und fuhr los.
*
Drei Tage noch bis zu den Weihnachtsferien. Vom Lernstoff lagen sie im Soll, aber Viktor wusste nicht, wie er mit dieser Situation umgehen sollte. Wie mit Thomas? Wie mit Dennis, Alexander und Sascha, von denen er glaubte, dass sie den Film gedreht hatten?
Er fuhr an der Pförtnerloge vorbei, grüßte per Handzeichen, fuhr durch das Tor und parkte. Kirschsteins Wagens stand noch nicht auf dem Parkplatz. Viktor stieg aus und eilte ins Sekretariat. Frau Gramer, die Sekretärin, saß in ihrem Büro hinter dem Schreibtisch und arbeitete sich durch einen Stapel Unterlagen. Es roch nach frischem Kaffee.
»Guten Morgen«, begrüßte er sie und stellte sich an den Empfangstresen.
»Guten Morgen, Herr Vogel. Haben Sie ein schönes Wochenende gehabt?«
»Es geht so. Ich war Freitagabend noch in diesen Unfall auf dem Weg zur Fähre verwickelt und der Schock steckte mir das ganze Wochenende in den Knochen.«
Sie schlug eine Hand vor den Mund. »Das ist ja furchtbar. Der Unfall mit dem Radfahrer? Entsetzlich!«
Viktor nickte und bereute, es erwähnt zu haben. Aber wenn man etwas von ihr wollte, kam man nicht um ein persönliches Gespräch herum. In ihrem Blick erkannte er, dass ihre Neugier geweckt war.
»Waren Sie dabei? Wie ist es denn passiert?«
Viktor schilderte ihr den Unfallhergang, verschwieg dabei seinen Wutanfall und die Bewegung aus dem Wald.
»Schrecklich. Eine Bekannte von mir ist mit einer Frau befreundet, die eine Nachbarin des Radfahrers ist. Er soll ein sehr netter und freundlicher Mann gewesen sein. Oh, wie schrecklich!«
»Ja«, stimmte Viktor zu und nickte. »Frau Gramer, können Sie mir einen Gefallen tun?«
»Aber sicher, Herr Vogel. Welchen denn?«
Sie stand auf und kam ihm entgegen.
»Ich habe hier eine DVD. Die muss sich Herr Kirschstein unbedingt und dringend ansehen. Danach möchte ich mit ihm darüber sprechen. Am besten noch vor Unterrichtsbeginn.«
Er legte die DVD auf den Tresen und schob sie ihr zu.
»Eine DVD?«, fragte sie, nahm die Silberscheibe und begutachtete sie. Den Titel konnte sie durch die Hülle nicht lesen.
»Ja, mit Unterrichtsmaterial. Sehr wichtig.« Er nickte nachdrücklich.
»Also gut, ich werde sie ihm geben. Aber versprechen kann ich nichts. Um neun hat er noch eine längere Sitzung mit Politikern.«
»Vor Unterrichtsbeginn«, beharrte Viktor.
»Ja, ich werde es ihm sagen.«
»Gut. Vielen Dank.«
Viktor wandte sich zum Gehen.
»Herr Vogel.«
»Ja?«
Er drehte sich wieder um.
»Haben sie abgenommen?«
»Ja. Danke schön.«
Viktor lächelte und ging zu den Klassenräumen.
*
Was für ein Schultag.
Kirschstein hatte sich nicht vor dem Unterricht bei ihm gemeldet und Viktor spürte in der Klasse eine Stimmung, wie er sie noch nie zuvor in seiner Laufbahn erlebt hatte. Thomas war krank. Dennis, Alexander und Sascha
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