1739 - Justines grausamer Urahn
dabei sein wollen, verstehe ich das.«
»Ja, ja, aber so bekomme ich die Gewissheit, dass es sich tatsächlich um eine – sagen wir – abartige Person handelt.«
»Das kann ich unterstreichen.«
Der Hotelier dachte noch nach. Dann nickte er und sagte: »Ich bleibe.«
»Gut.«
Der Halbvampir hatte zugehört. Er war ja im Prinzip ein Mensch. Nichts blieb ihm verborgen. Er sah und hörte, und er hatte meine Worte gehört. Er würde jetzt seine Schlüsse daraus ziehen.
Für ihn gab es nur eines. Versuchen, aus dieser Falle zu entkommen. Die Tür war geschlossen. Bis zu ihr waren es drei bis vier lange Schritte. Er sagte nichts, aber er war bereits damit beschäftigt, zu reagieren. Er wollte nicht mehr am Boden bleiben, zog die Beine an und drehte sich dabei zur Seite. So war es für ihn leichter, auf die Füße zu gelangen. Dabei ließ er uns nicht aus den Augen. Er wartete darauf, wie ich reagieren würde.
Ich ließ ihn auf die Beine kommen. Dabei hatte ich Zeit genug, mein Kreuz aus der Tasche zu holen. Damit wollte ich den Halbvampir in Schach halten, und ich wusste, dass er sich vor dem Anblick fürchtete. Das Kreuz konnte einen Halbvampir auch vernichten, das hatte ich schon erlebt.
Als er den ersten Schritt in Richtung Tür ging, setzte auch ich mich in Bewegung. Ich war schneller und stand plötzlich vor ihm, wobei ich ihm das Kreuz mit der linken Hand entgegenstreckte.
Er stoppte.
Sein Mund öffnete sich, aber er sagte nichts. Dafür drehte er den Kopf zur Seite, weil er den Anblick nicht ertrug. Er schüttelte den Kopf, er hatte sich völlig verändert. Er war nicht mehr derjenige, der nur killen wollte. Die Angst hatte ihn gezeichnet, und auch Simon Berger sah sein Zittern.
Ich sprach ihn an. »Du hast es versucht. Du hast einen Auftrag, aber du bist nicht allein.«
»Ja...«
Ich wollte sicher sein und fragte ihn noch einmal: »Wer hat euch geschickt?«
Er zögerte mit der Antwort. Schließlich überwand er sich doch, als er noch mal auf das Kreuz geblickt hatte.
»Es ist die große alte Macht gewesen. Die Kraft aus der Urzeit. Schon damals war sie da, und sie hat überlebt. Sie ist jetzt frei. Sie wird keine Gnade kennen bei ihren Feinden. In ihr steckt die Macht der Urzeit, die Geburtsstunde all des Bösen und...«
Er sagte noch einige Worte, die an mir vorbeirauschten. Längst waren meine Gedanken auf die Reise gegangen, und es kristallisierte sich allmählich ein Bild hervor.
Da der Halbvampir nichts mehr sagte, sprach ich ihn wieder an. »Gibt es einen Namen für ihn?«
Er nickte.
Dann sprach ich den entscheidenden Satz aus und fasste ihn in eine Frage.
»Ist es eine Kreatur der Finsternis?«
Er musste mir nicht antworten, ich erkannte es an seiner Reaktion, dass ich ins Schwarze getroffen hatte. Er zuckte zusammen und seine Schultern hoben sich zugleich. Seine Augen weiteten sich, und irgendwie fühlte ich mich erleichtert, denn jetzt war alles klar.
Dieser Urvampir war eine Kreatur der Finsternis. Ich hatte ihn in der Mauer der Kirche gesehen. Da war er ein Zerrbild gewesen. Ein namenloses Bild aus der Urzeit. Einer, der schon existiert hatte, als an normale Menschen noch nicht zu denken gewesen war. Aber auch einer, der sich angepasst hatte und die Entwicklung beobachtet hatte. Einer, der eine Doppelgestalt besaß. Man konnte auch von zwei Gesichtern sprechen.
Das eine hatte ich gesehen, es musste das Aussehen aus der Urzeit gewesen sein. Aber es gab noch ein zweites, das ich nicht kannte. Nur hatte ich meine Erfahrungen sammeln können, und so wusste ich, dass diese Kreaturen gern die Gestalt eines Menschen annahmen. Und deshalb ging ich davon aus, dass er sich dieser Tarnung bedient hatte.
»Er hat also zwei Gestalten!«, stellte ich fest.
»Davon gehe ich aus.«
»Wunderbar. Kennst du sie?«
Er senkte den Blick. Für mich war das der Beweis, dass er sie kannte, und deshalb verlangte ich von ihm, dass er sie mir auch beschrieb.
Der Halbvampir zierte sich noch ein wenig, rückte dann mit der Sprache heraus. Er wusste, dass ihm keine Wahl blieb. Und so flüsterte er mir die Worte entgegen.
»Er ist eine menschliche Gestalt. Er hat einen anderen Kopf bekommen. Er ist hässlich und auch mächtig. Er ist ein Herrscher, und er ist ein Sieger.«
Ja, das nahm ich ihm ab. Er musste ein Sieger sein. Das waren sie einfach alle.
»Und wo hält er sich jetzt auf?«, wollte ich wissen. Ich musste ihn einfach finden.
»Er will sie holen!«
Es war klar, wen er damit gemeint hatte.
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