1744 - Der lebende Alptraum
ihm die Kinnlade herunter.
»Verstanden?«
Er nickte. Dann schaute er zu den beiden Fenstern hin und bewegte hektisch den Kopf.
»Ist er hier?«
Golding verengte seine Augen. »Siehst du ihn denn?«
»Nein, aber ich habe sein Spiel gehört.«
»Ja, das weiß ich. Da musst du nur mich fragen. Ich habe das Band laufen lassen.«
»Und warum hast du das getan?«
»Weil ich einen Toten herholen werde.« Er lachte schrill. »Ja, einen Toten. Den besten Gitarren-Rocker der Welt.«
»Ich weiß, was mit ihm war. Er ist schnell zu einer Legende geworden und nannte sich auch der böse Engel.«
»Bist du auch ein Fan?« Die Augen des jungen Mannes glitzerten plötzlich.
»Sogar ein besonderer.«
»Hast du ihn gekannt?«
»Nein, nur seine Musik. Und jetzt bin ich gespannt, ihn kennenzulernen.«
Auf jede meiner Bemerkungen hatte er eine schnelle Antwort gegeben, das war jetzt nicht der Fall. Er dachte nach, er starrte mich wieder lauernd an und war sich unschlüssig, wie er mich einschätzen sollte. Ich konnte mir vorstellen, dass sich in seinem Kopf die Gedanken in verschiedene Richtungen drehten.
»Aber er ist doch tot, wie?«
Ich lächelte breit. »Weiß man das? Ich habe da meine Zweifel, und die hast du doch auch. Sonst würdest du nicht hier oben hocken und seine Songs spielen. Du willst ihn locken. Du willst, dass er dir einen Besuch abstattet.«
»Ach? Ein Toter?«, höhnte er.
So richtig glaubte ich ihm nicht. Er schien mehr zu wissen, als er zugab. So einfach setzte man sich nicht auf einen Speicher und spielte die Songs ab, die im gesamten Haus zu hören waren, denn irgendwelche Lautsprecher hatte ich nicht entdeckt.
»Ich warte auch auf ihn. Das kann ich mir leisten, denn ich habe ihn schon mal gesehen. Es liegt noch nicht lange zurück, da stand ich vor ihm und habe ihn spielen gehört. Das war schon ungewöhnlich, aber ich glaube auch, dass Engel nicht auf eine normale Art und Weise getötet werden können. Sie sind immer irgendwie da, auch wenn sie weg sind. Und Azur ist der böse Engel gewesen, der seine Musik in die Welt geschickt hat.«
Archie Golding nickte. Er schien mir zustimmen zu wollen. Dann aber fauchte er mich plötzlich an. »Du bist kein Fan! Du bist jemand, der mir den Fan nur vorspielt, weil er etwas anderes will.«
»Und was sollte das sein?«
Er fing an zu lachen. »Azur. Du willst zu ihm. Es geht dir um ihn, aber du liebst ihn nicht.«
»Du denn?«
»Ja, ich liebe ihn. Ich weiß, dass er anders ist. Und ich weiß auch, dass er Hilfe braucht. Ich habe mich zur Verfügung gestellt, ich werde ihn begleiten. Ich locke ihn mit seinen Melodien. Ich bin sein Partner, denn er hat es geschafft und ist aus der Hölle zurückgekehrt.« Jetzt leuchteten Archies Augen. »Mit meiner Hilfe hat er es geschafft. Ich kann ihm den Weg ebnen. Er hat mich gefunden. Er hat meine Signale empfangen...«
»Nicht nur du!«, unterbrach ich ihn.
»Du auch?«
»Nein, ich nicht.«
Er trat mit dem rechten Fuß auf. »Dann bist du kein Fan, das habe ich gewusst, verdammt. Ein Fan ist bereit, ihm seine Seele zu geben, um in seiner Nähe zu sein.«
»Und das willst du?«
»Ja.«
»Aber Elton Brown hat es nicht gewollt. Ich denke doch, dass es noch etwas...«
»Der Bulle«, kreischte er los. »Der verdammte Bulle, der unten im Haus wohnt?«
»Von ihm spreche ich.«
Archie verzog das Gesicht. »Ich hasse ihn. Er mag mich nicht, ich mag ihn nicht. Er ist ein Feind. Er hasst auch meine Musik. Und das habe ich Azur mitgeteilt. Er hat mir versprochen, etwas dagegen zu unternehmen und...«
»Du hast Azur schon gesehen?«
»Ja, und er weiß, dass ich zu ihm gehöre. Ich liebe seine Musik, ich liebe ihn und ich werde ihn begleiten. Dann wird sich dieser Bulle wundern und mich nie mehr anmachen.«
»Was hat er dir so Schlimmes angetan?«
»Er wollte, dass ich Ruhe gebe. Dabei hat er keine Ahnung von Azur gehabt. Das konnte ich bei einem Streit erfahren. Doch ich weiß Bescheid.«
Allmählich blickte ich etwas besser durch in diesem Fall. »Und jetzt sitzt du hier und wartest auf ihn?«
»Das ist so.«
»Meinst du, dass er kommen wird?«
Golding streckte mir die Zunge entgegen. »Und ob er kommen wird. Ich habe für ihn gespielt. Natürlich nicht so gut, wie er spielt. Er hat mir auch versprochen, mir diesen Bullen vom Leib zu halten, der einfach nicht aufgeben wollte. Und dieses Versprechen hat er gehalten.«
»Und wie sieht das aus, wenn er dir einen Feind vom Leib hält?«
»Das ist doch ganz
Weitere Kostenlose Bücher