1763 - Einer sieht alles
Nancy hörte die Frauenstimme, die sich meldete.
»He, Georgie, was ist denn los?«
»Nichts.«
»Doch. Komm mal her!«
Georgie schien Respekt vor seiner Frau zu haben. Er warf der Besucherin einen knappen Blick zu und öffnete wenig später eine andere Tür, die zum Bad führte.
Dampf füllte den Raum. Er wallte auch über die Schwelle nach draußen, und Miller sah plötzlich aus wie eine neblige Gestalt.
Nancy Wilson wusste, dass ihr nicht viel Zeit blieb, um ihren Drang zu befriedigen. Sie huschte auf eine Tür zu, die dem Bad schräg gegenüber lag. Es war die Küche, und genau dort hatte sie auch hingewollt.
Was jetzt folgte, musste alles sehr schnell ablaufen. Sie sah einen nicht zu großen Raum vor sich, der mehr lang als breit war. Gegenüber der Tür lag das Fenster, aber dafür hatte Nancy keinen Blick. Sie interessierte sich auch nicht für die beiden Hängeschränke, die sich gegenüberlagen, sie sah nur die Spüle und das Besteck darauf liegen.
Sie brauchte ein Messer.
Und sie fand es.
Nicht auf der Spüle, sondern in der Schublade darunter. Der Griff bestand aus Metall wie die Klinge, und als sie es mit der rechten Hand umschloss, da durchschoss sie ein irrer Strom, den sie bisher noch nicht erlebt hatte. Es war etwas Neues und auch anderes, das in ihr steckte und sie zu höheren Weihen führen würde.
In diesem Moment dachte sie auch daran, dass sie die Wohnungstür nicht geschlossen hatte. Sie wollte es eigentlich nachholen, doch es kam ihr etwas dazwischen.
Miller hatte das Bad verlassen.
Er stand im Flur, suchte die Frau und rief mit leiser Stimme: »Wo stecken Sie?«
Nancy Wilson wollte ja, dass er in die Küche kam. »Hier bin ich«, rief sie fast fröhlich.
»Verdammt, was tun Sie denn in unserer Küche? Sind Sie verrückt geworden?«
Als Antwort schickte sie ein Lachen.
Das spornte Miller noch stärker an. Er fühlte sich in seiner eigenen Wohnung auf den Arm genommen, riss die Tür auf, die zur Hälfte zugefallen war und rannte in die Küche hinein. Er war wütend. Er war sauer. Er hatte nur Augen für die Frau, die ihn anlächelte und ihm entgegenkam.
Beide liefen aufeinander zu. Der Mann schaute der Frau nur ins Gesicht und sah dort das impertinente Grinsen. Er ahnte, dass dieser Besuch nicht zufällig war, doch da war es schon zu spät.
Die schlenkernden Armbewegungen der Frau hatten ihn nicht so sehr gestört. Manche Menschen gingen ebenso. Aber bei Nancy Wilson hatten sie einen anderen Sinn gehabt. Durch die Bewegungen hatte sie Schwung holen können, den sie brauchte.
Und so rammte sie die Klinge in den Bauch des Mannes, der ihr entgegenkam.
Sie ließ das Messer los und duckte sich zur Seite. Von dort warf sie einen Blick auf Miller.
Der hatte noch weitergehen wollen, was ihm nicht gelungen war. Der Stich hatte ihn gestoppt, zudem steckte das Messer noch in seinem Körper. Der Griff schaute deutlich hervor. Jetzt war auch das erste Blut um die Wunde herum zu sehen, ein roter Rand, der sich nach unten ausbreitete.
Miller knickte ein.
Aber er bewegte noch den Kopf und schaffte es, Nancy Wilson anzuschauen. In seinem Blick malte sich der Schmerz ab. Auch Fassungslosigkeit war vorhanden. Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch er schaffte es nicht.
Sein Körper wurde für die Beine zu schwer. Als wäre er von einem harten Schlag getroffen worden, sank er in sich zusammen und landete schwer auf dem Küchenboden.
Der würde ihr nicht mehr gefährlich werden. Blieb noch die Frau im Bad.
Nancy spürte auch weiterhin den bösen Drang in sich. Sie musste töten, alles andere zählte nicht. Erst wenn sie das geschafft hatte, würde man mit ihr zufrieden sein.
Sie schaute sich nach einer weiteren Waffe um. Eigentlich hätte sie das Messer aus der Wunde ziehen und es noch mal benutzen können. Als ihr diese Idee kam, setzte sie diese sofort in die Tat um.
Blut spritzte ihr entgegen und blieb auf ihrem rechten Handrücken kleben. Es interessiere sie nicht. Jetzt war die Frau im Bad an der Reihe. Sie bemühte sich nicht mal, leise zu sein, sondern trat fest auf, was nicht ungehört blieb.
»Bist du es, Georgie?«
Sie kicherte nur.
»He, Georgie...«
»Ich bin nicht Georgie!« Mit diesen Worten riss Nancy die Tür des Badezimmers ganz auf und stand auf der Schwelle wie ein aus der Hölle geschickter Mordteufel...
***
Greta Miller saß in der Badewanne und starrte auf die fremde Frau, die auf der Türschwelle angehalten hatte. Das heißt, so fremd war ihr die Frau
Weitere Kostenlose Bücher