1792 - Die Nachtjägerin
eine junge Frau, die nicht mal dreißig Jahre alt geworden ist.«
»Und wodurch starb sie?«
»Heroin, hörte ich. Sie hat sich den Goldenen Schuss gesetzt. Da macht man nichts.«
»Ja, leider.«
Die beiden Männer hatten es eilig. Es gab noch andere Aufgaben zu erledigen, deshalb wollten sie das Ausladen der Toten so schnell wie möglich hinter sich bringen.
Die Leiche wurde in den kleinen Anbau geschafft. Sie blieb in ihrem Sarg liegen, denn den hatte sie bekommen. Das war bei armen Junkies nicht immer der Fall. Diesmal aber mussten Eltern oder Freunde ihr einen Sarg spendiert haben, und die junge Frau sollte auch nicht verbrannt werden, sondern eine normale Beerdigung bekommen.
Die Männer nahmen es hin. Das Thema war für sie nicht interessant. Die Tote wurde in die Sichtkammer gebracht und die beiden Männer fragten Jeb Fisher, ob der Sarg offen oder geschlossen bleiben sollte.
Fisher entschied sich dafür, ihn geschlossen zu lassen. Falls er sich den Leichnam später noch mal anschauen wollte, konnte er den Sarg selbst öffnen. Zuvor unterschrieb er die Quittung, dass die Tote abgegeben worden war.
Danach fuhren die beiden Kollegen wieder. »Und halt den Wodka kalt.«
»Mach ich. Wisst ihr schon, wann ihr wieder hier sein werdet?«
»Nein. Nicht mehr in dieser Woche. Da müssen wir andere Friedhöfe anfahren.«
»Ist okay.« Jeb Fisher schaute ihnen nach, bis sie nicht mehr zu sehen waren, dann ging er wieder zurück in sein Büro. Er dachte daran, sich einen Kaffee zu gönnen.
Zehn Minuten später schwappte das Getränk in der Tasse. In seinem kleinen Büro ging er hin und her, schaute mal in die Tasse und überlegte, was er tun sollte.
Ihm fiel ein, dass er sich die Tote anschauen wollte. Irgendwie hatte er stets Mitleid mit den jungen Menschen. Es tat ihm dann weh, dass sie so früh gestorben waren.
Der Sarg war zwar geschlossen, aber Fisher wusste, wie man ihn schnell öffnete. Er zögerte keine Sekunde und ging zu der Kammer, in der die Tote lag. Er konnte die Tür an der Rückseite öffnen und schaute auf den Sarg, der leicht schräg auf einem schmalen Podest stand.
Es war ein schlichter Sarg, der auch leicht geöffnet werden konnte. Platz genug, um den Deckel an die Seite legen zu können, war da. Ihn schauderte schon, als er sich an die Arbeit machte, und er hatte auch so etwas wie ein leicht schlechtes Gewissen.
Es gab in dieser Enge auch Licht. Es musste erst eingeschaltet werden. Manche Menschen wollten ihre Verblichenen in aller Schärfe sehen, deshalb war das Licht auch grell.
Jeb Fisher beugte sich tief über die Tote, damit er ihr Gesicht sehen konnte. Für einen Moment schlug sein Herz schneller. Ja, diese junge Frau war eine Schönheit gewesen. Noch jetzt war davon etwas zu sehen, auch wenn die Wangen bleich und eingesunken waren. Es war schade, dass der Tod sie geholt hatte. Dabei sah sie nicht aus wie ein Junkie. Da kannte sich Fisher aus, denn er hatte in seinem Leben genug dieser Junkies gesehen. Die meisten hatten im Tod nicht erlöst ausgesehen.
Bei ihr war das etwas anderes.
Er hatte nichts mehr in dieser Kammer zu suchen, den Deckel legte er wieder auf den Sarg und verließ die makabre Umgebung. In seinem Büro wollte er sich noch einen Wodka gönnen und auch über die junge Frau nachdenken, die gebracht worden war.
Er hatte die andere veränderte Leiche gesehen, das alte, ausgezehrte Gesicht, und fragte sich jetzt, was da genau passiert war. Und war es möglich, dass mit der neuen Leiche Ähnliches geschah?
Der Gedanke war da und ließ ihn nicht los. Ja, das konnte durchaus sein, dass plötzlich auf dem Friedhof jemand auftauchte und sich an der jungen Frau zu schaffen machte.
Plötzlich rann es ihm kalt den Rücken hinab. Er tauchte ab und holte die Wodkaflasche aus dem Schrank. Auf ein Glas verzichtete er. Im Hocken nahm er einen kräftigen Schluck aus der Flasche, schüttelte sich, stellte die Flasche weg und kam wieder hoch.
Sein Blick fiel aus dem Fenster, und er sah etwas.
In der Nähe stand eine Frauengestalt!
***
Jeb Fisher fühlte sich zwar nicht wie jemand, der einen Tiefschlag bekommen hatte, aber er war schon ein wenig aus seiner täglichen Routine gerissen worden.
Die Frau hatte er nie zuvor gesehen. Sie war attraktiv. Pechschwarzes Haar, eine dunkle Kleidung und ein interessantes Gesicht, das glaubte Jeb Fisher zumindest.
Er stand noch immer nahe des Fensters und schaute auf die Besucherin. Die stand da und tat nichts, abgesehen davon, dass sie
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