1792 - Die Nachtjägerin
möglich verlassen. Von Tanner und seiner Frau war nichts mehr zu sehen. Dafür hatte Kate schon gesorgt. Sie drängte immer darauf, dass sich ihr Mann pensionieren lassen sollte. Doch wenn das geschah, gab es bei den Tanners ein Unglück, das wusste ich, denn ein untätiges Zuhause-Bleiben würde ihn umbringen.
Aber Urlaub war Urlaub, und da konnte man Kate Tanner schon verstehen, dass sie ihren Mann nur ungern hergab. Aber er hatte seine Pflicht getan und möglicherweise sogar in ein Wespennest gestochen. Das herauszufinden war eine Sache für Suko und mich.
Ich hatte es nicht so eilig wie die Tanners und schlenderte dem Ausgang entgegen. Der Betrieb war so stark, dass die Besitzer der Läden breit grinsten und sich schon jetzt Gedanken über das Weihnachtsgeschäft machten.
Ich schob Gedanken dieser Art zur Seite und sah zu, dass ich die Mall verließ. Bis zur Haltestelle war es nicht weit, und dort gab es auch den Kiosk. Nicht unter der Erde, sondern oben, da wurde alles Mögliche verkauft. Zeitungen, auch Süßigkeiten und touristischer Kleinkram. Aber das Geschäft florierte, denn es gab immer wieder genügend Leute, die sich ein Souvenir besorgten.
Es war kühler geworden. Viele hatten wegen des Windes Kopfbedeckungen aufgesetzt.
Ich hatte mir ungefähr ausgerechnet, wann Suko eintreffen würde, deshalb gönnte ich mir am Kiosk noch einen Hotdog, der nicht besonders schmeckte, aber der Hunger trieb ihn rein.
Ich hatte Glück, dass Suko auftauchte, kaum dass ich den Hotdog verspeist und mir die Finger abgewischt hatte.
»Und?«, fragte ich.
»Steig ein.«
»Alles okay?«
Suko drehte den Kopf. »Noch, Alter, aber man weiß ja nie, was alles auf uns zukommt.«
»Das kannst du laut sagen …«
***
Es war kein schlimmes Bild, eigentlich ein normales, aber es barg einen Horror in sich, der die junge Frau erschreckte. Deutlich sah sie sich selbst als Gestalt dort stehen, und sie konnte es nicht fassen. Das war sie selbst, das war ihr Körper, ihr Leib, aber sie war bewaffnet. Sie hielt eine grüne Pistole in der Hand und senkte die Waffe so, dass die Mündung gegen den Hinterkopf der Frau zeigte. Jetzt musste sie nur noch den Finger krümmen, dann war es passiert.
Tat sie das?
Tue ich das?, fragte sich Irina.
Sie schüttelte den Kopf. Ihre Lippen bewegten sich dabei. Sie sagte ein paar leise Worte, die auch die Kundin vor ihr nicht verstand. Aber sie wollte etwas wissen, bückte sich und fragte: »Haben Sie was? Haben Sie Probleme?«
»Nein – ähm – nein. Wie kommen Sie darauf?«
»Nur so. Sie sehen so ungewöhnlich aus. Etwas seltsam, würde ich sagen.«
»Das täuscht.«
»Wenn Sie meinen.« Die Kundin lächelte. Man sah ihr an, dass es ihr unangenehm war. »Und wegen der Reise komme ich dann noch mal bei Ihnen vorbei.«
Irina nickte. »Danke, das ist nett. Dann kann ich Ihnen auch noch etwas heraussuchen, das für Sie bestimmt interessant sein wird.«
»Gern.«
Die Frau drehte sich um, schüttelte noch mal den Kopf und ging davon.
Irina Dark blieb zurück. Sie stöhnte auf und ließ sich gegen ihre Stuhllehne fallen. Dann schlug sie beide Hände gegen ihr Gesicht und schüttelte den Kopf.
Was sie da gesehen hatte, war einfach schlimm. Es gab sie also. Ihre Doppelgängerin. Einmal hatte sie im Bad gestanden und hatte sich im Spiegel gezeigt, und jetzt tauchte sie hier im Laden auf. Und das am helllichten Tag.
Das war etwas, womit sie nicht fertig wurde. Damit hatte sie Probleme, und als sie jetzt wieder hinschaute, da war ihre Doppelgängerin weg. Verschwunden wie in Luft aufgelöst.
Sie schaute wieder auf die Tür, das war alles. Wenn sie jemand gesagt hätte, was ihr widerfahren war, hätte man sie für verrückt gehalten. So etwas konnte sie nicht erzählen, das musste sie für sich behalten.
Es war sie. Es gab sie zweimal. Sie hatte eine Doppelgängerin, die allerdings anders reagierte als sie.
Die Doppelgängerin hatte eine Waffe in der Hand gehalten. Eine grüne Pistole. Damit hatte sie nicht geschossen, aber Irina konnte sich vorstellen, dass sie das gern tun würde.
Ganz im Gegensatz zu ihr.
Also passte das wieder nicht.
Nein, sie wurde nicht verrückt, aber sie wusste, dass sie nicht mehr weiter arbeiten konnte. Es war für sie unmöglich, sich zu konzentrieren. Sie würde alles falsch machen. In der Beratung und auch am Computer.
Ich muss weg, dachte sie. Hier ist es nicht gut für mich. Es ist besser für mich, wenn ich erst mal von hier verschwinde. Ihrer Freundin,
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