18 Gänsehaut Stories
Jane lachen, silberhell, fröhlich, wie eine Zwanzigjährige eben lacht. Nur daß sie eben Witwe geworden war.
»Nun«, sagte sie, als sie sich gefaßt hatte, »mit dem Ihren können Sie doch wohl zufrieden sein, Doktor!«
Atkinson wandte sich voll Jane zu, tauchte seinen Blick in den ihren und sagte, als erkläre er einem Kind die Mysterien der Welt:
»Ich brauche einen Schädel für jene Prüfung – den Kopf eines Toten. Ein Studien- und Prüfungsobjekt. Und ich kann nicht bestehen, ich kann die Prüfung nicht erfolgreich ablegen und die Stellung erhalten, wenn ich nicht einen tauglichen, einen überdurchschnittlichen Kopf auftreibe. Denn wir Phrenologen, wir sezieren nicht bloß: Wir erarbeiten uns aus der Kenntnis der einzelnen Hirnpartien ein Bild des neuen Menschen. Mit den exekutierten Leichen aus Old Bailey kann ich nichts anfangen, mit den Ertrunkenen aus der Themse, den Erschlagenen aus Soho, den schwammigen Säufern von den Docks kann ich meinen Konkurrenten nicht schlagen, denn Enver Bostic verfügt über ein hervorragendes Studienobjekt, über den Kopf eines eben zu rechter Zeit verstorbenen Onkels, der immerhin Maler war.«
Lady Jane wurde unbehaglich. Sie verstand so wenig von dem, was der schöne Arzt ihr erzählte, und es war zuviel Fremdes. Sein Blick hatte eine narkotische Wirkung, die ihr neu war: Nach zwei Jahren an der Seite eines sehr viel älteren Mannes trat sie zum erstenmal wieder hinaus in jene Welt, in der die Männer begehrten und die Frauen begehrt wurden – ein Spiel der Kräfte, das in ihrem Heimatort in Wales relativ harmlos abgelaufen war, hier in London aber offensichtlich seine Gefahren hatte.
»Dieser Konkurrent …«, begann sie. »Doktor Bostic!«
»… ist sehr tüchtig?«
»Er hat einen scharfen Verstand, kühne Ideen, bisweilen sogar allzu kühne. Aber er wird sich dank seines besseren Objekts auch besser ins Licht setzen und die Position erhalten, die einzige, die es derzeit für Phrenologen gibt. Und da er so alt ist wie ich, wird er sie innehaben und halten können, bis ich ein alter Mann bin.«
Ein alter Mann … Wie oft hatte sie das gedacht, wenn ihr geliebter Neville, von der Sternwarte kommend, nach einem zärtlichen Kuß auf ihre Stirn eingeschlafen war. Nein, von alten Männern – bei aller Liebe und Verehrung – hatte sie genug.
»Was kann ich für Sie tun, Doktor Atkinson?« fragte sie mutig, obwohl ein leises Grauen sie beschlich.
Auch Atkinson mußte sich erst fassen, ehe er zu seiner Bitte ansetzte:
»Geben Sie mir die Erlaubnis, Mylady, den Kopf des großen Astronomen Sir Neville Hulme bei meinem Examen zu behandeln.«
Die Worte rauschten an Jane vorbei. Nevilles Kopf. Sie sah ihn vor sich, wie er aufgebahrt dalag und nur Kopf, Hals und Hände zu sehen waren. Und der Kopf, dieser im Leben so ehrfurchtgebietende Kopf, schmal, klar, vornehm und intelligent, war im Tod eine entsetzliche Maske greisenhafter Selbstüberhebung geworden, starr, steinern, arrogant und feindselig.
»Wer wird es erfahren?« fragte sie leise.
»Die Prüfer, Professoren und Ärzte, sie bindet das Berufsgeheimnis.«
»Und Doktor Bostic?«
»Der hat mir nichts vorzuwerfen, da er den Schädel eines Verwandten zur Prüfung mitbringt.«
»Und nach der Prüfung, was ist dann?«
»Dann wird der Schädel sogleich restituiert und gemeinsam mit dem Leichnam, den wir bis dahin im Institut einfrieren, beigesetzt.«
»Aber die offiziellen Leichenfeiern … das Begräbnis morgen nachmittag? Sie sehen, Doktor Atkinson, ich kann Ihnen nicht helfen.«
»Daran habe ich natürlich gedacht, Mylady, der Sarg würde mit Steinen gefüllt, bis das Gewicht des Verblichenen erreicht ist, und in vierzehn Tagen, wenn alles vorbei
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