18 Gänsehaut Stories
gesprochen hat te. »Ja, ein kleiner Spaziergang würde mir vielleicht ausgesprochen guttun.«
»Ich bringe dich auf die Terrasse. Es ist eine wunderbare Nacht heute.« Sie trat zu ihm und nahm seinen Arm. Er sah, wie sie lächelte – und auf ihn herab blickte.
Er hätte nie geglaubt, daß Knochen so schnell austrocknen können. Er war kleiner geworden. Sein Anzug schlotterte am Körper. Er spürte Valerie, und wo ihr Fleisch das seine berührte, brannte es wie Feuer. Ihr Parfüm roch stark und betäubend. Er versuchte, sich zu wehren, aber er hatte keine Kraft mehr. Willenlos ließ er sich auf die Veranda führen. Er stammelte ein paar unartikulierte Laute, und der Speichel tropfte aus seinem Mund, fiel auf den Rockaufschlag und zu Boden. Er konnte kaum noch sehen.
Valerie brachte ihn zu einem Stuhl und wartete, bis er sich gesetzt hatte. Jetzt konnte er sie wieder sehen, denn das Mondlicht war hell und unbarmherzig.
»Du bist nur müde«, sagte sie. »Ruhe dich aus.«
Die Mattigkeit überflutete ihn wie eine Woge. Sie spülte über ihn hinweg und drang bis in das Mark seiner Knochen. Ihm war übel, und er fühlte sich alt und verbraucht. Das Mondlicht schmerzte in den Augen. Das Leben erschien ihm sinnlos und wie eine Last. Mit letzter Kraft raffte er sich auf und sah in das Gesicht seiner Frau. Es war das Gesicht eines anmutigen, hübschen Mädchens von kaum zehn Jahren.
Ein letzter Funke Lebenswille flackerte in ihm auf. Er bewegte seine spröden Lippen und krächzte mühsam:
»Wer bist du? Was bist du …?«
Sie stand da, eingehüllt vom Silber des Mondlichts, die Arme auf der Brust verschränkt, und sah ihn an. Kalt und erbarmungslos lag ihr Blick auf ihm. Dann sagte sie:
»Hunger und Gier nach Leben erfüllen mich, aber ich habe kein eigenes Leben – ich kann es nur anderen wegnehmen. Ich und andere, die wie ich sind. Wir besitzen das geheime Buch des Lebens, in dem die Schicksale aller Menschen aufgezeichnet sind.« Ihre Stimme klang geisterhaft. Sie klang aber auch erschöpft und müde. »Um so etwas wie leben zu können, müssen wir anderen Menschen die Zukunft rauben, ihnen die Jahre stehlen. Du wärest achtzig Jahre alt geworden, Bob.«
Sie setzte sich auf die Steinmauer der Terrasse und ließ ihn nicht aus den Augen. Bob verhielt sich ganz ruhig und beobachtete sie. Leise fragte er:
»Wie macht ihr es?«
Valerie lächelte.
»Als du mich zur Frau nahmst, gelobtest du, eins mit mir zu sein und dein Leben mit mir zu teilen. Zu teilen, Bob. Aber ich habe kein eigenes Leben, nur den Hunger und die Gier danach. Jedesmal bei einer Berührung, bei einem Kuß, bei einer Umarmung, überhaupt immer, wenn wir uns nahe waren, saugte ich dich aus, nahm dir ein Stück deiner Zukunft. Aber was sind fünfzig oder sechzig Jahre gegen vollkommene Leere? Wir konnten nicht teilen, ich wollte alles. Deine Jahre gehören nun mir; ich werde sie leben.«
Ihm wurde schwarz vor den Augen. Aber sein Wille war stärker als die Furcht. Schmerz raste durch seinen Körper, als er auf die Füße sprang. Seine Hände umklammerten die Stuhllehnen und gaben ihm Halt.
»Nein, du kannst mir nicht mein Leben stehlen!«
Jetzt konnte er Valerie wieder sehen. Sie starrte ihn an und schüttelte den Kopf.
»Du kannst es nicht ändern, Bob. Schone dich jetzt, denn die Anstrengung tut dir nicht gut. Ob du an Altersschwäche oder durch einen Unfall stirbst, spielt keine Rolle mehr. Deine Jahre gehören mir.«
Es waren tausend verschiedene Gedanken, die in diesem Augenblick von ihm Besitz ergriffen. Er dachte an die vielen kränkelnden Männer, deren Frauen jung und gesund blieben, an die Tatsache, daß die Lebenserwartung der Männer kürzer als die der Frauen war, und er entsann sich der Angewohnheit der Frauen, stets ein Geheimnis um ihr wahres Alter zu
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