18 Geisterstories
Hinterzimmer am Ende des Hausflurs voran.
»Komme ich noch früh genug?« fragte unser Freund besorgt.
»Zu früh«, war die Antwort.
Der Arzt drehte sich mit einer verwunderten und unruhigen Miene, die er nicht verbergen konnte, obgleich er es gern getan hätte, hastig um.
»Treten Sie nur rein, Sir«, sagte sein Führer, dem diese Unruhe offenbar nicht entgangen war; »treten Sie nur rein; Sie sollen auf mein Wort keine fünf Minuten aufgehalten werden.«
Unser Freund ging in das Zimmer und blieb allein.
Es war ein kleines kaltes Gemach mit nur zwei schlechten Stühlen und einem ebenso schlechten Tisch. Im Kamin brannte ein winziges Feuer und diente nur dazu, die Luft dunstiger zu machen, denn die Feuchtigkeit floß im eigentlichen Sinne von den Wänden herunter. Durch das Fenster, dessen Scheiben großenteils zerbrochen und verstopft waren, sah man in einen kleinen mit Wasser angefüllten Garten. Nichts regte sich, weder im Hause noch außerhalb, und unser Freund setzte sich schauernd an den Kamin, den Erfolg seines ersten ärztlichen Besuchs abzuwarten.
Nach einigen Minuten hörte er ein Fuhrwerk dem Hause sich nähern. Es hielt, die Haustür wurde geöffnet, sodann folgten ein langes Hin- und Herreden und ein Geräusch von Fußtritten und Gedränge auf dem Hausflur und der Treppe, als wenn zwei oder drei Männer etwas Schweres hinauftrügen. Bald darauf kamen sie wieder herunter und entfernten sich aus dem Haus. Die Tür wurde hinter ihnen verschlossen, und alles war wieder still wie zuvor.
Es verflossen abermals fünf Minuten, und der Arzt hatte sich eben entschlossen, jemand im Hause aufzusuchen, als die Tür geöffnet wurde und seine Besucherin vom vergangenen Abend, ebenso gekleidet und durch denselben schwarzen Schleier verhüllt, ihm winkte. Ihre ungewöhnliche Größe und der Umstand, daß sie nicht sprach, rief auf einen Augenblick den Gedanken in ihm hervor, daß er es mit einem verkleideten Mann zu tun haben könnte; allein ihre gramvolle Stellung, ihr krampfhaftes Schluchzen überzeugte ihn sogleich wieder, daß sein Argwohn töricht sei, und er folgte ihr mit raschen Schritten. Sie führte ihn die Treppe hinauf und blieb an der Tür des vorderen Zimmers stehen, ihn hineinzulassen. Das Gemach war sehr dürftig, nur mit einem alten tannenen Schrank, einigen Stühlen, einem Bett ohne Vorhänge und einer gewürfelten Decke versehen. Das verdunkelte Fenster ließ so wenig Licht eindringen, daß man alle Gegenstände nur sehr unbestimmt sah, und der Arzt hatte daher auch die menschliche Gestalt nicht sogleich bemerkt, auf welcher seine Blicke hafteten, sobald die Frau an ihm vorüberstürzte und sich vor dem Bett auf die Knie warf.
Ausgestreckt auf dem Bett, dicht eingehüllt in ein leinenes Tuch und mit Decken bedeckt, lag die Gestalt steif und regungslos da. Ihr Kopf und Gesicht waren die eines Mannes und unverhüllt, nur daß um den ersteren eine Binde geschlungen und unter dem Kinn zugebunden war. Die Augen waren geschlossen. Der linke Arm ruhte schwer auf dem Bett, und die Frau hatte die ihren Druck nicht erwidernde Hand gefaßt. Der Arzt schob sie sanft zur Seite und erfaßte die Hand selbst.
»Mein Gott!« rief er aus, sie unwillkürlich wieder fallen lassend, »der Mann ist tot!«
Die Frau fuhr empor und schlug die Hände zusammen.
»O sagen Sie das nicht, Sir«, schrie sie so leidenschaftlich, daß unserm Freund der Gedanke zurückkehrte, sie müsse wahnsinnig sein; »sagen Sie das nicht; ich kann – kann es nicht – kann es unmöglich ertragen! Es sind schon viele Menschen wieder ins Leben zurückgeholt worden, die von ungeschickten Ärzten gänzlich aufgegeben wurden, und viele andre gestorben, die hätten wiederhergestellt werden können, wenn
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