18 Geisterstories
bloß durch seine Gegenwart und gütige Behandlung Ruhe ein, sondern erleichterte auch ihre betrübliche Lage mit freigebiger Hand. Als ihrem Tode ein flüchtiger Strahl der Verstandeshelle vorherging, entstieg den Lippen der Armen ein inbrünstiges, glühendes Gebet für sein Wohlergehen. Es drang zum Himmel und ward erhört. Die Segnungen, die er als Werkzeug der Vorsehung ihr zuführte, sind ihm tausendfältig wiedervergolten; doch bei all seinem Reichtum, hohem Rang und sonstigem wohlverdienten Glück sind keine Rückerinnerungen erfreulicher und befriedigender für seine Gefühle als die an den schwarzen Schleier.
Das weiße Tier
Ein Nachtstück von
Georg von der Gabelentz
Während Gustav Meyrink und auch Hanns Heinz Ewers als Bahnbrecher der fantastischen deutschen Literatur dieses Jahrhunderts noch heute einen Namen haben, ist Georg von der Gabelentz (1868-1940) allzu rasch in Vergessenheit geraten. Wie Meyrink war Gabelentz ein sehr fantasievoller Erzähler mit ausgeprägten Neigungen zur Mystik und zum Spiritismus, und wie Ewers zeichnet er sich vor allem dadurch aus, daß er die gespenstischen und übersinnlichen Begebenheiten in seinen Romanen und Erzählungen höchst spannend in Szene zu setzen wußte. Nach einem Jura-Studium in Leipzig und Lausanne entschied er sich für die militärische Laufbahn und wurde Anfang des Ersten Weltkriegs Adjutant im sächsischen Kriegsministerium (1914-1916); danach sehen wir ihn als stellvertretenden Generaldirektor des Sächsischen Hoftheaters Dresden (1916-1918). ›Das weiße Tier‹ erschien 1904 in dem gleichnamigen Erzählband.
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Wissen Sie, was es ist, wenn einen das Grausen packt? Es ist etwas ganz anderes als Angst. Man kann Angst haben bei einer Gefahr, vor drohenden Schmerzen, vor Krankheit oder vor dem Tode, doch ein Mann wird über solche Dinge hinwegkommen. In jener Nacht aber war es etwas tausendmal Schrecklicheres, vor dem ich gezittert habe, obgleich ich seine Nähe nur fühlte, nur ahnte. Da lernte ich, was es heißt, Grausen empfinden, feiges, nerventötendes Grausen. –
Ich hatte mich als Arzt unweit der russischen Grenze niedergelassen. Mein Beruf führte mich bis in die einzelnen abgelegenen Güter und Höfe der Umgegend, und ich unternahm oft stundenlange Ritte.
Als ich eines Tages von einem solchen nach meiner Wohnung zurückkehrte, traf ich vor dem Hause einen Reiter, er stieg aus dem Sattel und schritt auf meine Tür zu.
Ich rief ihn an, da zog er einen Brief aus der Brusttasche und überreichte ihn mir. Das Schreiben lautete:
›Herr Doktor, folgen Sie sofort meinem Boten, der Sie zu mir führen wird. Ich bin verloren, wenn Sie nicht kommen. Sorgen Sie, bitte, daß niemand von dem Besuche erfährt.
Ihr ergebener
Wilhelm Rosen.‹
Ich fragte den Boten, der die gelockerten Sattelgurte seines Pferdes schon wieder anzog, nach dem Befinden und dem Leiden seines Herrn.
Er zuckte die Achseln und entgegnete:
»Ich weiß es nicht.«
Dabei verzog er seinen Mund zu einem Grinsen, zwinkerte mit den Augen und wies mit der Hand auf seine Stirn.
»Was ist Ihr Herr –?«
»Ich weiß es nicht. Er bleibt sonst niemals am dritten Oktober zu Hause, denn er fürchtet sich, das weiße Tier könnte an dem Tage kommen.«
Damit wandte er sich um und saß auf, wenige Augenblicke später trabten wir nebeneinander davon.
Nach mehrstündigem Ritt bog mein Führer auf schmalem Wege in ein mir unbekanntes Waldtal ein, alte Föhren schlossen ihre Kronen über dem verwahrlosten Pfad zusammen und wölbten hohe Tore.
Bei Einbruch der Dämmerung standen wir vor einem einstöckigen Hause inmitten dieses Waldes, der
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