18 Geisterstories
nehmen.«
»Da ich mir keine auflade«, fuhr der Arzt fort, »indem ich mich Ihrem Begehren füge, so werde ich morgen früh den Patienten besuchen, wenn Sie die Adresse zurücklassen wollen. Zu welcher Stunde kann ich ihn sehen?«
»Um neun Uhr«, erwiderte die Frau.
»Sie müssen meine Frage entschuldigen«, sagte der Arzt; »aber befindet er sich unter Ihrer Obhut?«
»Nein.«
»Dann würden Sie ihm also auch nicht beistehen können, wenn ich Ihnen Verordnungen für seine Behandlung über Nacht mitgäbe?«
Die Unbekannte erwiderte unter Tränen: »Nein!«
Da wenig Aussicht war, weitere Auskunft zu erhalten, und da unser Freund die Gefühle der Unglücklichen zu schonen wünschte, die anfangs gewaltsam an sich gehalten hatte, jetzt aber von ihrem Weh ganz überwältigt schien, so wiederholte er sein Versprechen, den Patienten am andern Morgen zur bestimmten Stunde zu besuchen, und entließ die rätselhafte Frau, die sich, nachdem sie ihm ein Haus in einem entlegenen Teil von Walworth bezeichnet hatte, nicht minder geheimnisvoll entfernte, als sie gekommen war.
Man wird leicht glauben, daß ein so außerordentlicher Besuch einen beträchtlichen Eindruck auf das Gemüt des jungen Arztes machte und daß er viel und lange und ebenso vergeblich nachsann, wie das Rätsel zu lösen sein möchte. Gleich andern hatte er oft von merkwürdigen Fällen gehört und gelesen, in welchen Vorahnungen oder Vorhersagen des Todes gewisser Personen auf den Tag, ja auf die Minute eingetroffen waren. In einem Augenblick war er zu glauben geneigt, daß der vorliegende ein solcher Fall sein möchte, wogegen er indes im andern wieder bedachte, daß nach allen hierher gehörigen Geschichten, die ihm bekannt waren, nur von Vorgefühlen erzählt wurde, die gewisse Personen von ihrem eigenen Tod gehabt hatten. Die Besucherin hatte aber von einer dritten Person, einem Manne, gesprochen, und unmöglich war anzunehmen, daß ein bloßer Traum oder eine Einbildung sie veranlaßt haben sollte, mit so schrecklicher Bestimmtheit, als sie es getan, vom Tode desselben zu reden. Sollte der Mann vielleicht am andern Morgen ermordet werden, und war es die Absicht der Frau – die etwa anfänglich eingewilligt, an der Tat Anteil zu nehmen, sich durch einen Eid zum Schweigen verpflichtet und später bereut hatte –, womöglich wenigstens seinen Tod, wenn einmal einer Mißhandlung nicht zu begegnen war, durch Sorge für zeitigen ärztlichen Beistand zu verhindern? Doch war es denkbar, daß so etwas kaum zwei Meilen von der Hauptstadt geschehen konnte? Unser Freund kam daher wieder auf seinen ersten Gedanken zurück, daß der Verstand der Frau zerrüttet sein müßte, und da er sich das Rätsel auf keine andere irgend befriedigende Weise zu lösen wußte, so blieb er bei der Annahme, daß sie verrückt sei, so oft und so viel er auch noch während seiner schlaflosen Nacht darüber hin und her sann; denn der schwarze Schleier stand ihm beständig vor der Seele.
Walworth, in seiner weitesten Entfernung von der Hauptstadt, ist sogar noch jetzt ein elender Ort ohne regelmäßige Straßen und war vor fünfunddreißig Jahren zum größten Teil kaum besser als eine traurige Einöde, in welcher nur wenige Bewohner von sehr zweideutigem Charakter hausten, Leute, die ihrer Armut halber in besseren Gegenden keine Wohnungen mieten konnten oder denen die Abgeschiedenheit von Walworth wegen ihrer Beschäftigung und Lebensweise besonders wünschenswert war. Viele der Häuser, die man jetzt dort erblickt, waren damals noch nicht gebaut und die vorhandenen, zerstreut stehenden so erbärmlich wie möglich.
Als der junge Arzt daher durch die Ortschaft ging, bot
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